Vom Fell bis zur Wesenserkenntnis

Vom Fell bis zur Wesenserkenntnis
»Schafe haben ein Fell, Menschen nicht«, hörte ich mich neulich den ersten Satz meiner Predigt zum Evangelium vom »guten Hirten« (Joh 10,1-18) sprechen. Was ich dabei vor Augen hatte, war die Aufgabe des Menschen, mit seinem Unbekleidetsein umzugehen. Die Genesis spricht von dem Augenblick, in dem Adam und Eva dies als Teil der Erkenntnis von Gut und Böse bemerken. Den Unterschied zwischen tierischer und menschlicher »Bekleidung« sehe ich darin, dass sich im Fell des Tiers ein Teil seines Wesens selbstverständlich ausspricht, während die Kleider des Menschen zuallererst etwas zudecken und verstecken, indem sie über die Nacktheit hinweghelfen. Das ist sowohl potentiell gut als auch potentiell schlecht: Wir können mit unserer wechselnden Bekleidung die Vielfalt unserer menschlichen Möglichkeiten unterstreichen oder unseren Mitmenschen etwas vormachen, was wir vom Wesen her nicht einlösen können oder wollen.
Diese Problematik wird uns einmal in der Unsicherheit bewusst, das Wesen der Mitmenschen hinter ihren Kleidern vermuten zu müssen, zum anderen fühlen wir uns im eigenen Wesen nicht erkannt und angenommen, wenn sich dies auf unsere bloße Erscheinung bezieht. Wo wir uns als Teil einer Familie, als Frau oder Mann, als Zugehörige zu einer Sprache oder einer Ethnie angesehen fühlen, erleben wir untereinander das Trennende, das nicht mehr als Fremdes, sondern als Feindliches wirkt. Ein Kreislauf von Unverständnis kann aus dieser Entfremdung hervorgehen, in dem alle Beteiligten sich berechtigt fühlen können, das Unmenschliche im Anderen zu bekämpfen. Jesus Christus spricht in seinem Gleichnis von den Schafen und Hirten von dem Gegenbild der Tür, die uns den Zugang von Wesen zu Wesen im Wortsinne aufschließen kann. Wer durch diese Tür wahrer Wesenserkenntnis Eingang zum Inneren des anderen Menschen findet, kann ihn fortan nicht mehr auf der Basis der Außenperspektive seiner Erscheinung beurteilen, sondern kann »... eingehen und ausgehen und Nahrung finden«, wie Christus in seiner Rede fortfährt.
Der Leib Jesu, den sie vor dem ersten Osterfest ins Grab gelegt haben, gehörte einer bestimmten Familie, einem bestimmten Geschlecht und einem bestimmten Volk an. Der Leib Christi, den die Jünger nach der Auferstehung wahrgenommen haben, muss von diesen Einseitigkeiten frei gewesen sein. Nicht umsonst spricht Paulus davon, dass wir diesen Leib »anziehen« sollen, uns mit ihm nicht bekleiden, sondern von ihm überkleiden lassen. Diese Art Kleid kann die Tür zur Wesenserkenntnis werden, kann der Anfang davon werden, dass wir einander wahrhaft erkennen und erkennen lassen.
Ulrich Meier, 05.05.2022
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