Blind vor Erwartung …

AutorIn: Ilse Wellershoff-Schuur

I.

Die Geburt des Christkindes ereignet sich mitten in einer Zeit der großen Erwartungen. Das Volk, dem Gott so besonders nah gewesen war, lebte unter der Herrschaft der Römer, mit der Kultur der Griechen, inmitten anderer Völker, die um die besondere Zukunft dieses Volkes, der Menschheit, der Erde nicht wussten. Die Stimme des himmlischen Herrschers, der über viele Jahrhunderte zu dem Gottesvolk und damit zur Menschheit gesprochen hatte, war verstummt. Der Gott des Volkes Israel schwieg. Die Zeit der Propheten war seit mindestens 300 Jahren vorbei. Seitdem war nur – meist mündlich und weniger auch schriftlich – tradiert worden, was die Stimme Gottes über die Erfüllung des göttlichen Heilsplanes ausgesagt hatte. Oder besser: was den Propheten über die weitere Entwicklung der Menschheit aus den geistigen Welten eingegeben worden war zur Verbreitung im Volk.

Die Himmelsworte, die einst so viel Kraft gegeben hatten, drohten zu verklingen. Die Bilder verblassten. Stattdessen herrschte eine Welt der Äußerlichkeit und der Fremdbestimmung.

In noch früheren Zeiten nannte man das eine »Hungersnot«. Oder vielleicht gingen mit solchen Zeiten der Entfremdung immer Hungersnöte einher? Jedenfalls darbten die Menschen. Die Sehnsucht nach himmlischer Nahrung, nach Erlösung aus dem Unglück, wurde immer größer.

 

Eigentlich war die Prophezeiung immer da gewesen: von den Worten an, die Abraham von Gott trafen: Ein großes Volk werde aus ihm hervorgehen, durch das den Völkern der Erde Segen werden sollte. (1. Mose 18,18)

Es war auch klar, dass der Weg der Segnung der Menschheit hinführte zu einem besonderen Erdenmenschen, der aus dem Stamme Juda hervorgehen musste: Es wird das Zepter von Juda nicht weichen noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis dass der Held komme, und ihm werden die Völker anhangen. (1. Mose 49,10)

In der Zeit der großen Wüstenwanderung spricht es der Seher Bileam fast widerwillig aus: Ich sehe ihn, aber nicht jetzt; ich schaue ihn, aber nicht von nahem. Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen und ein Zepter aus Israel aufkommen und wird zerschmettern die Schläfen der Moabiter und den Scheitel aller Söhne Sets. (4. Mose 24,17)

Später wird noch weiteres klar werden. Nicht nur aus dem Stamme Juda wird er sein, sondern ein Nachkomme des großen Königs David, der selbst als der Gesalbte, der Messias, galt, und insofern als ein ewiger Herrscher und König: Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. (Jer 23,5)

Alles Unglück wird durch ihn abgewendet vom Volk, und alle Gottlosen werden vernichtet werden:

Und mein Knecht David soll ihr König sein und der einzige Hirte für sie alle. Und sie sollen wandeln in meinen Rechten und meine Gebote halten und danach tun. (Hes 37,24)

Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten.
(Jes 11,2-4)

Ja, alles wird gut werden, wenn er kommt: Doch es wird nicht dunkel bleiben über denen, die in Angst sind. Hat er in früherer Zeit in Schmach gebracht das Land Sebulon und das Land Naftali, so wird er hernach zu Ehren bringen den Weg am Meer, das Land jenseits des Jordans, das Galiläa der Heiden. Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude.
(Jes 8,23-9,2)

Ganz konkret ist diese Erwartung, und in den Überlieferungen finden sich viele Einzelheiten des Anbruchs der neuen großen Zeit, wie die Geburt von einer Jungfrau: Darum wird euch der HERR selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel. (Jes 7,14)

Auch der Ort seiner Herkunft ist angekündigt: Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist.
(Mi 5,1)

Ja, alles wird gut werden, wenn ER kommt, der Erlöser, der … Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst: auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er´s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des HERRN Zebaoth. (Jes 9,5-6)

 

II.

Wann bemerken die Menschen in der Umgebung des Christus Jesus, dass eine neue Zeit angebrochen ist? Bemerken sie es überhaupt? Oder: Warum bemerken sie es so oft nicht?

Vielleicht hängt es gerade mit den Erwartungen zusammen, die sie durch die Schauungen entwickelt haben?

Versetzen wir uns in die Lebenslage der Menschen — so gut es eben geht in einer ganz anderen Zeit. Wir fühlen uns abgeschnitten von dem, was das Leben sinnvoll gemacht hat in früheren Zeiten. Es will nicht gelingen, das wiederzubeleben in uns. Als Fremde leben wir im eigenen Land. Fremdes beherrscht unseren Lebensraum. Äußerlich werden wir bedrängt. Vielleicht leiden wir auch materielle Not. Aber es gab einmal Hoffnung, und wir bemühen uns mit aller Kraft, sie nicht ganz verlöschen zu lassen.

Einer wird kommen, der uns erlöst. Er wird alles Schwere von uns nehmen. Er wird diejenigen strafen, die es über uns gebracht haben. Er wird unser Leben leicht machen, es für uns in die Hand nehmen, uns die rechten Wege zeigen, uns führen und leiten. Er wird all unsere Probleme lösen. Ein Führer …?

 

Angesichts dessen, was dann geschah, müssen wir bekennen, dass die Wirklichkeit der Inkarnation des Gottessohnes nicht unseren Erwartungen entsprechen kann! Vielleicht hätten wir das wissen können, denn es gibt auch die Prophezeiungen, nach denen er verachtet, verfolgt, getötet wird, nach denen er fällt, um wieder aufzustehen.

Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.
(Jes 53,3)

Sollte er nicht auf einem Esel einreiten in sein Heiligtum?

Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin. (Sach 9,9)

Und war nicht gar seine Hingebung an Folter und Tod Teil der prophetischen Botschaft: Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf. (Jes 53,7)

Viele Einzelheiten der Überlieferung zeugen tatsächlich davon, dass Jesus gerade in seiner Machtlosigkeit die Erfüllung der Überlieferung ist, so zum Beispiel die entsprechenden Worte in den Psalmen 22, 34 und 69.

Aber mit diesem Teil der Überlieferung haben wir als Zeitgenossen Jesu nicht viel anfangen können bisher. Wie soll denn das gehen, dass der Schwache, der Machtlose, uns zur Erlösung wird? Er muss doch die Feinde schlagen und das Gottesreich wieder herstellen!

Tatsächlich sind unmittelbar nach Tod und Auferstehung die Lebensverhältnisse des Volkes nicht besser geworden. Die Erkenntnis, dass alles vielleicht ganz anders gemeint war, fällt besonders schwer, wo sich Schichten von hoffnungsvoller, konkreter Erwartung an die mühelose Erlösung aus dem Elend über das Gemüt gelegt haben!

 

III.

Wann bemerken wir, dass eine neue Zeit angebrochen ist? Bemerken wir es überhaupt? Inwiefern sind auch wir blind für das, was uns zur Hilfe geschickt ist?

Welch erschreckende Parallelität der Gemütslage das ist – Entfremdung, Machtlosigkeit, materielle und seelische Not überall. Disruptionen, Brüche auch da, wo es scheinbar gut geht. Schlimmer noch, denn gerade da, wo wir zu den vermeintlich Privilegierten gehören, ergibt sich bei genauerem Hinfühlen eine noch tiefere Verzweiflung: Wir können wissen um die Katastrophen überall, die Krisen, die Verzweiflung, die unlösbar scheinenden Probleme und Konflikte in aller Welt. Jedes Wegschauen wird da zum Sündenfall …

Wer oder was kann uns helfen? Was sind unsere Erwartungen?

Wie kindlich wir oft reagieren auf die Herausforderungen des Schicksals: Schuld sind natürlich die anderen, möglich erscheinende Lösungen sind für den vereinfachenden Blick offensichtlich, aber die Verantwortlichen wollen sie nicht anwenden. Sind sie verblendet, bösartig, fremdgesteuert von den Widersachermächten? Wir wüssten schon, wie es geht, aber man lässt uns nicht …

Oder: Wir hatten ja nie eine Chance. Man hat uns alles genommen, was uns ermächtigt hätte …

Oder: Die Macht des Bösen ist einfach zu groß. Da kann man sich nur in die innere Emigration zurückziehen. Vielleicht mit einigen anderen Auserwählten, die es besser wüssten, eine verschworene Gemeinschaft der Erleuchteten bilden …

Wir wissen nur zu gut, dass diese inneren und äußeren Strategien wenig hilfreich sind für den Fortgang der Welt. Dass sie uns in die seelische Getriebenheit führen und gnadenlos machen gegenüber denen, bei denen wir die Wurzel des Übels vermuten. In einer Zeit, in der der Christus in uns wirken will, sind Schwarz-Weiß-Ideologien nicht mehr zielführend.

Vielleicht müssen wir uns eingestehen, dass wir Teil des Problems sind – so wie wir auch Teil der Lösung, der Erlösung werden können? Was also ist unsere Erwartung an das Heil?

 

IV.

Bemerken wir, dass eine neue Zeit längst angebrochen ist? Was erwarten wir von der Geburt des Christus in uns? Wie wird unser Weihnachten sich ereignen angesichts unserer Erwartungen?

Vielleicht haben wir uns bisher immer vorgestellt, dass er uns einmal erlösen wird. Dass er uns anspricht, erleuchtet, ergreift und dass dann alles gut sein wird. Wie von selbst. Ohne Mühe und Kraftanstrengung, ohne Widersprüche und Stolperfallen. Barrierefrei gewissermaßen. Dass er uns an die Hand nimmt und führt und verschont von allen Anfechtungen.

So lange wir mit der Erwartung leben, dass etwas von außen kommen wird, das uns erlöst, schauen wir nicht wirklich hin auf das, was schon ist, schon werden will, was uns ergreifen kann im Herzen. Die Liebe ist nicht eigensinnig, sondern empathisch, auch da, wo etwas nicht unseren Erwartungen entspricht. Suchen wir nicht oft das Heil an falschen Orten?

Können wir lernen, wirklich positiv zu schauen auf das, was werden will? Unvoreingenommen den Blick in die Zeit zu richten mit all ihren Herausforderungen. Das ist die »Aufgabe« in der Zeit, die uns erst befähigt, liebevoll unseren Beitrag zu leisten, jeder an seinem Ort.

Der Reiter auf dem weißen Pferd, der in der Apokalypse als der König aller Könige und der Herrscher aller Herrscher (Offb 19, 16) das Heil bringt, trägt einen Namen, den nur er selber kennt. Christus kommt nicht als äußere Autorität zu seinen Brüdern und Schwestern, sondern als derjenige, der das Ich in uns spricht. Auch unser Zeitgeist Michael gibt nur einen »Wink«, der uns bedeutet, dem Christus nachzufolgen in seinem Da-Sein. Was durch ihn offenbar wird, ist die Überwindung des Todes durch Machtlosigkeit.

Die neue Zeit ist längst angebrochen. In ihr dürfen wir in aller Demut und in vollem Bewusstsein der Verantwortung des Menschseins wirkmächtig an der Erlösung durch das Ich mitwirken. Es wird kein anderer kommen als der, der das Ich in mir spricht.