Was war denn zu erwarten?

AutorIn: Ruth Ewertowski

Es gibt drei sehr verschiedene Verheißungen, die im Judentum Erwartungen geweckt haben, die so unterschiedlich sind, dass sich niemand in vorchristlicher Zeit ihre gemeinsame Erfüllung hat vorstellen können.

1. Vor dem Beginn unserer Zeitrechnung haben viele Menschen aus dem jüdischen Kulturraum den Messias erwartet, der aus dem Geschlecht Davids stammen soll – den gesalbten König, der Stellvertreter Gottes auf Erden ist. Vom künftigen Messias erhoffte man ein Königtum, das alle Juden vereinen und von der Fremdherrschaft befreien würde. Die Vorstellung von diesem Königtum ist v.a. politisch geprägt.

2. Der Prophet Jesaja hat hingegen moch eine ganz andere Gestalt verheißen, eine, die schwer zu verstehen und zu deuten ist: den Gottesknecht. Auch wenn Jesaja in der Vergangenheitsform spricht, handelt es sich um eine Prophezeiung. Er spricht wie in einem künftigen Rückblick von dem, der zu seiner Zeit noch nicht gekommen war: »Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg. … er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt« (Jes 53). Auch dieser Gottesknecht ist ein Stellvertreter, aber keiner Gottes, sondern einer, der stellvertretend für andere Menschen leidet und sie damit erlöst. Es gab Deutungen, denen zufolge ganz Israel als dieser Gottesknecht leiden und damit die Menschheit erlösen würde.

3. Und schließlich gibt es die Verheißung des vom Himmel herabsteigenden Menschensohnes. Von ihm künden der Prophet Esra und v.a. das äthiopische Henochbuch. Hier ist die Rede von einem Himmelswesen, das mit dem Aussehen eines Menschen bei Gottes Thron lebt und am Ende der Zeit herabkommen, die Welt richten und die Herrschaft in einem himmlischen Reich übernehmen wird. Jesus selbst wird sich wiederholt – bei den Synoptikern sind es insgesamt 69 Mal – selbst als Menschensohn bezeichnen, dabei freilich immer in der dritten Person von sich sprechen. Mit diesem Menschensohn scheint das göttliche Urbild des Menschen auf, als dessen Ebenbild wir ursprünglich gedacht waren.

Jede dieser drei Verheißungen für sich genommen ist vorstellbar, aber ihre Erfüllungen scheinen sich gegenseitig auszuschließen: Entweder kommt der Erlöser aus dem Geschlecht Davids oder er steigt vom Himmel herab. Entweder stürzt er mit himmlisch-überirdischer Macht alle irdischen Reiche um und begründet ein himmlisches Reich oder er begründet ein neues und siegreiches irdisches Reich. Und beide so unterschiedlichen Möglichkeiten schließen jeweils die dritte aus, nach der der Verheißene verachtet sein soll, einen schmachvollen Tod stirbt und gar kein mächtiges Reich gründet, sondern alle Menschen von der Sünde erlöst. Von einer siegreichen Auferstehung des Gottesknechts war nicht die Rede.

Und doch gibt es im Neuen Testament eine Stelle, in der Jesus alle drei Prophezeiungen auf sich bezieht und damit zusammenführt: Auf seine Frage, was seine Jünger glauben, wer er denn sei, hatte Petrus sein berühmtes Bekenntnis ausgesprochen: »Du bist der Christus!« Und Jesus lobt ihn ob dieser Erkenntnis, die Petrus nicht von sich aus, sondern durch göttliche Offenbarung habe. Jesus nimmt die Zuschreibung der Messianität an, gebietet aber seinen Jüngern, niemandem davon zu berichten. Gleich darauf belehrt er sie über seine Zukunft. In seiner Selbstbezeichnung verwendet er dabei das Wort »Menschensohn« und spricht ausgerechnet diesem das zu, was Jesaja vom Gottesknecht sagt: »Der Menschsohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden« und dann: »nach drei Tagen auferstehen.« Jesus, der sich selbst nie als Messias bzw. Christus bezeichnet, diesen Titel aber in seinem Hoheitsanspruch annimmt, verbindet hier die beiden anderen Prophetien miteinander: die des Himmelswesens und des Gottesknechts. Wie wenig Petrus und vermutlich auch die anderen Jünger damit umgehen können, zeigt Petri Einspruch: »Das widerfahre dir nur nicht!«; woraufhin Jesus ihm das scharfe Wort »Geh weg von mir, Satan!« entgegenschleudert. – Warum? Möglicherweise sieht sich Jesus hier selbst gerade von der von allen anderen erwarteten Königsrolle versucht. Ähnlich wie kurz nach der Taufe, als er vom Teufel »alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit« angeboten bekommt, wehrt er sich gegen ein glorreiches Amt, um als Menschensohn und Gottesknecht seine Mission zu erfüllen, in der er sowohl als Richter als auch als Befreier und Stellvertreter der Menschen auftritt, für die er leidet.1

Nun ist ausgerechnet der Titel »Messias«, griechisch »Christos«, mit dem sich Jesus nie selbst bezeichnet hat, für immer zu seinem Namen und schließlich zu dem einer neuen Religion geworden. Es ist dieser Titel, den er zu verschweigen bittet und dessen irdisch herrschaftliche Dimension er als Versuchung erfährt und zurückweist. Wie sehr aber diese Dimension gewirkt hat, zeigt sich nicht nur bei Petrus, der das angekündigte Leid und den Tod Jesu nicht will, weil es zu einem König in seinem Sinne nicht passt, sondern auch bei den Zebedäussöhnen, die auf eine Hierarchie bedacht sind und die Plätze zur Linken und zur Rechten Jesu in seinem künftigen Reich für sich fordern. Dabei denken sie gewiss nicht an den leidenden Gottesknecht. Und es ist wohl auch nicht falsch, den Grund des Verrats durch Judas entweder in einer enttäuschten Messias-Erwartung zu sehen oder im Versuch, Jesus dazu zu bringen, endlich sein Königreich auf dieser Erde zu begründen.

Das Eigentümliche ist nur dies, dass es zu der Erfüllung der Gottesknecht-Erwartung genau durch die Vorstellung von einem weltlichen König, einem politischen Messias kommt. Denn nur von einem solchen können sich die Besatzer bedroht fühlen. Dem Hohepriester Kaiphas genügt nicht schon die Gotteslästerung, er braucht vielmehr ein Bekenntnis Jesu, in dem dieser sich als Messias erklärt, um ihn vor den Römern als einen politischen Aufrührer zu präsentieren, aufgrund dessen diese ihn dann hinrichten werden. Jesus aber bringt das Messiasbekenntnis sogleich in den Kontext des Menschensohntitels (Mk 14,61f), der sein Königtum von jedem weltlichen Machtcharakter befreit. Pilatus, der keine Schuld an diesem Menschen findet, sah für sich zumindest keine Bedrohung seiner weltlichen Herrschaft.

Es ist schon eine ausgezeichnete und erfüllende Ironie, dass die Erwartung und gefühlte Bedrohung einer weltlichen Macht dazu führt, dass der Messias als Gottesknecht das Mysterium von Tod und Auferstehung offenbaren kann. Er wird dabei zum Opfer der Menschen, die er durch sein Opfer wiederum von ihrer Tat befreit.

Als Menschensohn ist er eine Art Stellvertreter des Menschen. Bei Henoch freilich ist seine eigentliche eschatologische »Funktion« das Richten. Im Sinne Rudolf Steiners macht Christus als »Herr des Karmas« den Menschen zum Richter über sich selbst, denn das Karma ist keine von außen vollstreckte »Strafe«, sondern es entspringt auch dem nachtodlich-vorgeburtlichen Willen des Menschen selbst. Und in jedem Menschen ist der Menschensohn, »der Christus in mir« gegenwärtig. Jeder ist ein König, dem wir den vollen Respekt entgegenbringen dürfen. In der Übereinstimmung von Menschensohn und Messias sagt dieser: »Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.« – Das dürfen wir erwarten.