Weihnachtsgnade

AutorIn: Georg Dreißig

Wenn das Himmels-Du ein Erden-Ich erfüllt

Einstimmung
»Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu ­werfen; und wie wünschte ich mir, es brennte schon« (Lk 12,49).
Auch in der kleinen Flamme einer Adventskerze brennt das eine große Feuer, das die ganze Welt verzehren kann. Die kleine Kerze aber versteht es, das große Feuer zu bändigen, den Verbrennungsprozess milde und gezähmt zu leiten. Dabei verbrennt nur sie selbst, nicht aber die Umwelt. Als Licht und Wärme gibt sie sich ihr hin.

Wovon die Weihnachtsfreude kündet
Wenn wir uns fragen, was eigentlich die tiefe Weihnachtsfreude begründet, die wir als Kinder erlebt haben, werden wir an mancherlei denken können: den Lichterglanz, die Geschenke, den Tannenduft, die Lieder und Geschichten, die Traulichkeit …
Vielleicht aber sind all diese Dinge doch nur Versuche zu fassen, was mit äußeren Dingen letztlich nicht zu erklären ist; ja, der Blick auf sie mag uns die Weihnachtswirklichkeit sogar eher verstellen, als dass er sie uns erschließt. Denn das, was wir tatsächlich erleben, ist das Wunder, dass uns das Christuswesen so unendlich nah fühlbar wird – als Licht, als Wärme, als innere Kraft – allerdings in einer Weise, dass unser Intellekt diese Wirklichkeit nur schwer erfassen kann. 
Es geht uns da so, wie dem Bildhauer, der die Sonnenwärme plastizieren, dem Maler, der den Himbeerduft aquarellieren, oder dem Bäcker, der das Lied der Amsel in seinen Teig kneten möchte. Der Bildhauer spürt die Sonnenwärme, der Maler den Himbeerduft, der Bäcker vernimmt das Amsellied, doch entziehen sie sich dem Zugriff ihrer Hände – und dennoch fühlen sie sich in ihren Werken inspiriert. 
So entzieht sich das Christusmysterium den Zugriffen unseres Verstandes und ist doch da, schenkt sich uns hin, wird so wirklich erlebbar wie Wärme, wie Duft, wie Gesang. Seine Anwesenheit ließ uns als Kinder diese unendlich selige Weihnachtsfreude empfinden. Als Erwachsene kann es uns in unserem Tun inspirieren, auch wenn unser Verstand das Wunder nicht begreifen kann.
Es gibt bekanntlich auch die genau gegensätzliche Erfahrung: die Öde der Festvorbereitung, die Hohlheit der Weihnachtsfeiern, die nur vorgetäuschte Freude. Gerade diese Erfahrungen des Mangels, der Enttäuschung enthüllen unserem Verstehen vielleicht noch prägnanter als das beseligende Fest, worum es eigentlich geht: um Erfüllung nämlich. Das, was wir vorbereiten, ist nur der eine Teil der Weihnachtswirklichkeit. Er hat seinen Sinn, wenn er uns empfänglich macht für das Andere, das Eigentliche, was uns in den Geschenken, im Kerzenglanz, in den Liedern, den zwischenmenschlichen Begegnungen nahe kommen will. Gott schenkt sich uns hin. Weihnachten erfüllt sich mit der Anwesenheit des Weihnachtswesens. 
Was bedeutet das konkret?

Kein seliges Empfinden, sondern ein Impuls
Das ist nicht die reine Seligkeit, von der wir gern träumen mögen. Wir erfreuen uns an dem allmählich wachsenden Licht in der Finsternis: »Advent, Advent, ein Lichtlein brennt …« Vom Himmel aus gesehen ist Weihnachten keine Seligkeit, sondern ein Impuls, der uns heimsucht, der Heimat bei uns sucht: »Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen; und wie wünschte ich mir, es brennte schon« (Lk 12,49). Gott will Mensch werden nicht neben uns, sondern in uns, er will in der Menschheit der Wirkende werden. Dieser Weihnachtsimpuls ist als neue Werdekraft geschichtlich zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt in das Menschenwerden eingetreten ist. Er ist mit der Geburt in Bethlehem nicht vollendet. Damals ist offenbar worden, welches göttliche Geheimnis mit uns Menschen fortan verbunden sein soll: die Hoffnung, dass das göttliche Wesen uns erfüllen und in uns wirken, uns in unserem Menschwerden impulsieren kann. Die Christgeburt ist in der Zeit geschehen. Der Weihnachtsimpuls selbst aber ist ewig jung; er lebt jenseits der Zeiten fort, berührt uns übersinnlich, kann und will aber von uns ergriffen und durch uns Wirklichkeit werden.
Das ist ein Flammenprozess. Wie durch das Hinzukommen des Sauerstoffs möglich wird, dass auf Erden Flammen entbrennen, etwa die vier Kerzen auf dem Adventskranz oder die sieben Kerzen auf dem Altar, so kann unser Menschsein entflammen, indem sich die Gotteswelt selbst, der Heilige Geist, in unser Tun hinein ergießt, es durchgöttlicht und sich dabei selbst vermenschlicht. Erden-Ich und Himmels-Du sind in der Flamme eins. Die weltverwandelnde Gotteskraft erscheint in dieser Flamme auf Menschenmaß gemildert, und doch brennt in ihr das vom Himmel empfangene Feuer des Geistes.
Machen wir uns deutlich, was das für unser eigenes Wesen bedeutet! 
In der Sinneswelt nehmen wir etwas für wirklich, wenn es sichtbar, geformt erscheint. In der Welt der göttlichen Absichten und Werdeziele gibt es keine Dinge, sondern nur Wesen, Wirksamkeiten. Das Wort Wesen ist hier gleichbedeutend nicht mit Leibern, sondern mit Intentionen, Wirkensabsichten, Tätigsein-Wollen. Wenn das Christuswesen Mensch werden will, dann sucht es uns als himmlischer Impuls, der sich uns schenkt, den wir ergreifen und mit dem wir uns identifizieren können. Das geschieht da, wo wir diesen Impuls aufgreifen und in Freiheit sagen: »Dies will ich.« Es vollzieht sich in unserem Ich im Sinn des paulinischen »Ich, aber nun nicht ich, sondern der Christus in mir«. Christus, der Weihnachtsimpuls, der Menschwerde-Impuls, will in uns Ichkraft werden, seine Ichkraft in uns.
Diesen Weihnachtsimpuls, der jederzeit, in jeder Begegnung, an jeder Straßenecke in uns lebendig werden kann, können wir Weihnachtsgnade nennen, weil wir ihn nicht selbst hervorbringen, sondern weil er uns zuströmt und in uns zu pulsen beginnt, sobald wir uns empfänglich dafür machen. Das Empfänglich-Machen aber ist unsere Aufgabe.

Sich den Weihnachtsimpuls zu eigen machen
Wenn wir unsere Empfindungen und Gedankenbildungen nicht völlig an die materielle Welt verkauft haben, können wir bemerken, dass dieser Weihnachtsimpuls aus Licht und Wärme und Kraft uns immer unendlich nah ist, dass er unser ganzes Wesen durchzieht und prägt, dass er uns fortwährend und immer wieder neu impulsiert, unser Menschsein als Handgriff Gottes im Irdischen zu begreifen und zu erfüllen: Fortwährend sucht sein Licht, in unseren Augen zu leuchten und unser Sehen zu verwandeln; seine Wärme, in unseren Herzen zu wohnen und sie füreinander schlagen zu lassen; seine Kraft, in unseren Händen lebendig zu werden, so lebendig, als wären es gar nicht unsere Hände, sondern die des Weihnachtswunderwesens selbst. 
Beherrschen diese Tatsachen zwar nicht unser Bewusstsein, so sind sie doch auch nicht schwer in unser Bewusstsein heraufzuheben. Das gelingt – zunächst vielleicht überraschenderweise – am leichtesten dort, wo es alles andere als weihnachtlich zugeht. Das können wir zunächst mit dem Blick auf uns selbst überprüfen. Je länger wir leben, um so größer wird unsere Sammlung an Enttäuschungen, Versagen, Erschrecken vor dem eigenen Ungenügen, den Fehlern und Versäumnissen. Indem wir ehrlich und ernsthaft darauf schauen, zeigt sich uns ein Bild unserer selbst, das uns irritiert, vielleicht sogar erschreckt, weil es so wenig unseren Idealen und inneren Impulsen entspricht. »Das will ich« und »das bin ich« stehen sich da mehr oder weniger unversöhnt gegenüber. Und mit zunehmendem Alter stellt sich die Frage immer drängender: Werde ich je die Willenskraft finden, der zu sein, der ich meinen eigenen Impulsen entsprechend sein will?
In solchen Augenblicken der Selbsterkenntnis – wir könnten sie ebenso gut Selbsterschrecknis nennen – kann aber das Folgende beobachtet werden: Heimlich und weit weniger konturiert als das erste Bild, aber in seiner Anwesenheit nicht zu leugnen, schimmert noch ein anderes Bild unserer selbst auf. Ist das eine aus den eigenen Fehlern und Versäumnissen im Leben irdisch fest gestaltet, so das andere aus Licht und Wärme und Kraft in ätherischer Lebendigkeit. Sagt das eine urteilend: »Das bist du«, so das andere ermutigend: »Das kannst du werden.«
Nicht in den Augenblicken des ­Erfülltseins, der Freude, der Identität mit uns selbst zeigt sich dieses andere Bild. Es schimmert aber auf in Angst und Not, in Abirrung und Verleugnung, in Schwäche und Verzweiflung. Und wir können empfinden, wie uns aus diesem Bild eine Kraft zuströmt, eine Ermutigung, es zu verwirklichen, und ein Vertrauen, dass wir dies auch werden leisten können. Droht das Bild unserer eigenen Schwachheit uns noch schwächer zu machen, so kann dieses andere Bild unseren Werdeimpuls kräftigen. Die Weihnachtsgnade hat uns gefunden und beginnt in uns zu strömen.
Was uns so in eigener Selbstprüfung zur Erfahrung werden kann, das kann in unseren Blick auf den Mitmenschen als Licht- und Wärmequalität einfließen. Wir können uns dazu erziehen, so auf ihn zu schauen, dass dieses Schauen zu seinem wahren Wesen hindurchdringt, dass es das ätherisch lebendige Wahrbild seiner selbst hervorruft so ernst als möglich, so stark als möglich, so verständnisvoll als möglich. Auch in solchem Blick lebt eine Kraft, die belebt, Mut freisetzt, Werdekraft erschließt. Die Weihnachtsgnade, der Christusimpuls, Mensch zu werden, wird zwischen uns lebendig, entzündet neuen Lebenswillen.

Nachklang
Von dieser Begabung, die uns füreinander anvertraut worden ist und uns immer wieder heimsucht in Herz und Händen, spricht Hermann Hesse am Ende seines Romans »Gertrud«: 
»Es war mit meinem eigenen Leben nicht anders, und mit dem Leben Gertruds und vieler. Das Schicksal war nicht gut, das Leben war launisch und grausam, es gab in der Natur keine Güte und Vernunft. Aber es gibt Güte und Vernunft in uns, in uns Menschen, mit denen der Zufall spielt, und wir können stärker sein als die Natur und als das Schicksal, sei es auch nur für Stunden. Und wir können einander nahe sein, wenn es not tut, und einander in verstehende Augen sehen, und können einander lieben und einander zum Trost leben.
Und manchmal, wenn die finstere Tiefe schweigt, können wir noch mehr. Da können wir für Augenblicke Götter sein, befehlende Hände ausstrecken und Dinge schaffen, die vordem nicht waren und die, wenn sie geschlossen sind, ohne uns weiterleben. Wir können aus Tönen und aus Worten und aus andern gebrechlichen wertlosen Dingen Spielwerke erbauen, Weisen und Lieder voll Sinn und Trost und Güte, schöner und unvergänglicher als die grellen Spiele des Zufalls und Schicksals. Wir können Gott im Herzen tragen, und zuzeiten, wenn wir seiner innig voll sind, kann er aus unsern Augen und aus unsern Worten schauen und auch zu andern reden, die ihn nicht kennen oder kennen wollen.«
In solchen Augenblicken verströmt sich die Weihnachtsgnade, der Christusimpuls, durch uns. Das heilige Feuer, zur milden Flamme gebändigt, spendet Licht und Wärme und Lebensmut.