Die geheime Führung im Schicksal

AutorIn: Mechtild Oltmann-Wendenburg

Die Frage nach dem Glauben an Wunder ist eine kleine Schwester der Frage nach dem Glauben an Gott.
Das alltägliche Leben ist durchzogen von unerklärbaren Ereignissen, von denen niemand den Ursprung nennen kann. Manchmal vollziehen sich wundersame Dinge hinter den Kulissen unseres Bewusstseins. So etwa, wenn wir, ohne es zu bemerken, vor etwas bewahrt werden, was ansonsten zu einem Unglück geführt hätte. Da geschieht etwas wie aus einem Nachtbereich heraus, aus dem die Verstorbenen wirken, wenn es ihnen möglich ist einzugreifen. Bei anderen Errettungen, bei denen wir wach sind, oft sogar tief erschrocken, sagen wir wie von selbst: »Gott sei Dank«. Viele Menschen bezeichnen das als einen glücklichen Zufall. 
Am deutlichsten vollzieht sich das Wunder dann, wenn es allmählich kommt und wir seine Entstehung verfolgen können. So bei einer sich langsam bildenden Lebensbeziehung zwischen zwei Menschen, in der großes Vertrauen und Liebe möglich werden. Hier wird jeder zugeben, dass dies die Sphäre des Unbegreiflichen berührt. Schiller würde sie eine »Himmelstochter« nennen, wie die Freude.
Besonders stark wirkt jedoch ein Wunder, wenn es vollkommen überraschend auftritt, wenn etwa alle Hoffnung schon aufgegeben war und man etwas für endgültig verloren hielt. Das ist z.B. der Fall, wenn eine schwere, vielleicht sogar tödliche Krankheit besteht, der Kranke aber dann doch wieder gesund wird. Und nie werde ich vergessen, wie ich als Kind miterleben durfte, dass ein Mann, an dessen Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft nach so vielen Jahren niemand mehr glaubte, eines Tages doch plötzlich wieder vor der Tür stand.
Alles Überstandene ergreift das Leben ganz neu, verändert den Atem, weitet den Blick in die gesamte Umgebung, gibt neue Perspektiven und breitet Freude und Erleichterung aus wie eine Welle aus Wärme.
Warum nun sehen wir darin doch mehr als einen bloßen Zufall?
Der moderne Mensch, je jünger er ist desto deutlicher, hat mit Recht das Ideal, dass nur geschehen sollte, was er selbst will, worüber er frei entscheidet und was er mitbewirkt. Er will sein Leben nicht irgendwelchen Mächten verdanken, die er nicht kennt. Das widerspricht seinem Selbstverständnis.
Im Neuen Testament ist diese Selbstbestimmung und das Wirken eines Höheren kein Entweder-Oder. Folgen wir hier der Spur der Wunder, so dürfen wir auf die Momente schauen, in denen von »Zeichen« die Rede ist, was heute manchmal sogar mit »Geisteszeichen« übersetzt wird. Ein Zeichen geschieht nicht einfach ohne Ursprung, es wird »gesetzt«, und dafür gibt es immer einen »Jemand«, von dem es ausgeht. Dieser Jemand ist in den Evangelien Christus, indem er Zeichen hineinschreibt in die Schicksale einzelner Menschen. Eine Art Urbild dafür ist die Heilung des seit 38 Jahren Gelähmten am Teich Bethesda (Joh 5), denn hier wird sehr deutlich, dass es auf die Selbstbeteiligung wesentlich ankommt. Der Kranke erhält nämlich einen Auftrag, und der ist gewiss nicht leicht zu erfüllen: »Stehe auf, nimm dein Bett, auf dem du gelegen hast, und geh!« Und er stand auf und ging. Welch ein Wunder! Und welch ein gewaltiger Willensakt zugleich, der nur aus einem großen Vertrauen heraus vollzogen werden konnte!
Es könnte trotz der großen Eigenbeteiligung bei einem Wunder auch möglich sein, dabei neu zu lernen, etwas frei zu empfangen. Neu wieder zu sehen: ich kann nicht alles selbst tun, es gibt auch Geschenke. Diese wohnen ganz in der Nähe der Gnade, die sich auch niemand selbst erringen kann.
Im alltäglichen Leben sind die Wunder vielleicht nicht immer so groß wie bei einer spontanen Heilung. Aber alle haben einen »Absender«: Es sind die Engel, die in jeder Nacht daran tätig sind, Wunder in unser Leben hineinzuweben, und für die es vielleicht mehr und mehr selbst ein Wunder wäre, wenn Menschen das bemerkten.
Durch das Gewahrwerden eines Wunders wird ein Ereignis mehr wert, und es entsteht dann eine Rückwirkung auf seinen Ursprung, kostbar wie ein Gebet. Das Wissen um die Verbundenheit mit geistigen Mächten, macht möglich, dass immer noch Wandlung geschehen kann, und sei eine Situation auch noch so beängstigend aussichtslos.
Der Philosoph Robert Spaemann hat einmal in Berlin bei einer Diskussion mit einem Atheisten gesagt: »Eines würde mir besonders schwer werden, wenn ich keinen Glauben an Gott hätte. Es wäre dann niemand da, dem ich danken könnte.«
Wer Wunder nicht bemerkt oder nicht an sie glauben kann, wird doch nicht aufhören, sie zu vermissen, so wie es auch solche Menschen gibt, die sagen: »Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn.«