»Was, wenn ein barmherziger Gott anwesend ist?«

AutorIn: Julia Polter 

Wenn ich mich auf den Weg zur Intensivstation mache, um Patienten zu besuchen, nehme ich gerne die Mühe des Treppensteigens statt des Aufzugs in Kauf. Die Ruhe des Treppenhauses schenkt mir einen kostbaren Augenblick des Alleinseins und der Besinnung. Das Leiden, das mir auf meiner Station jeden Tag begegnet, ist unbeschreiblich. Viele Patienten sind dem Tode nahe, ihr Leben wird nur durch Maschinen erhalten. Viele sind bewusstlos. Häufig werden die Hoffnungen der anwesenden und bangenden Angehörigen nicht erfüllt. Besserung tritt nicht ein. Die Leiber der Patienten sind in der Regel von langer Krankheit oder plötzlichen Unfällen gezeichnet. Intubiert, künstlich beatmet und einsam liegen sie dort. Oft frage ich mich, wenn ich am Fußende des Bettes stehend ein stilles Gebet spreche: »Wie kann ich den Geist dieses Menschen erreichen, ist er noch im Leibe anwesend?«

Meine äußere Seelsorgearbeit bezieht sich oft auf die verzweifelten Verwandten und Angehörigen, die nicht selten selbst seelisch am Ende ihrer Kräfte sind. Durch den dramatischen Krankheitsverlauf sind sie in vielen Bereichen ihres Lebens persönlich betroffen. Ihnen wird der Boden unter den Füßen weggezogen. Schnell habe ich begriffen, dass es kaum tröstende Worte gibt, die ich äußern kann. Was immer ich sage, vergrößert noch den Schmerz und die Isolation. Angelernte Weisheit, kluge Worte, Bibelzitate haben hier keinen Platz. Auch ist deutlich, dass mein Wissen von der Anthroposophie, meine tiefe Überzeugung von der Realität von Reinkarnation und Karma und von der Unsterblichkeit der Seele, für den Leidenden nicht unmittelbar relevant ist. Das Gefühl der Hilflosigkeit und der Hoffnungslosigkeit, das in den Angehörigen lebt, ergreift auch mich. Was in meinem Kopf lebt, muss immer wieder neu im Herzen tragfähig werden.

Ich erinnere mich, wie ich auf einem meiner besinnenden Treppenhausgänge unbewusst begonnen hatte, eine bestimmte Frage immer wieder rhythmisch zu wiederholen: »What if there is a merciful God? Was, wenn ein barmherziger Gott anwesend ist?« Mir wurde diese Frage zum Mantra, zur Übung. Und ich bin froh, dass sich der Inhalt in mir als offene Frage formuliert hat und nicht als Aussage oder Feststellung. Die Offenheit, Nicht-Bestimmtheit entspricht der Situation, der ich mich täglich zu stellen habe. Ungewissheit ist immer anwesend in allen menschlichen Begegnungen auf der Intensivstation. Dies ändert sich, wenn der Tod offiziell festgestellt wird und schließlich alle lebenserhaltenden Maschinen abgestellt sind. Das Befürchtete ist eingetreten und das Hoffen wird von Trauer und Schmerz überwältigt. Der endgültige Verlust steht im Vordergrund.

Im Umkreis des eingetretenen Todes wird der Schmerz einerseits von der tröstenden Empfindung begleitet, dass der Verstorbene nun von seinem Leiden erlöst ist. Andererseits entsteht nicht selten eine äußere Abwehrreaktion der Nahestehenden. Empfunden und ausgesprochen wird eine völlige Absage an den wohlwollenden Gott. Besonders wenn die Umstände des Todes meist junger Menschen tragisch und plötzlich sind, höre ich die Aussage: »Ich kann nun nicht mehr an einen Gott glauben. Wie kann er so etwas zulassen?« Es kommt mir in solchen Situationen ein Teil der Wut und Verzweiflung entgegen, die der scheinbar teilnahmslosen und unbarmherzigen Gottheit gilt. Als Pfarrerin und Seelsorgerin repräsentiere ich im Bewusstsein der Betroffenen diesen herzlosen Gott. Anfänglich rief dies eine Abwehrreaktion in mir hervor, bis ich bemerkte, dass ich dadurch innerlich gegenüber den Anklagenden eine Mauer aufbaute. Mit der Zeit lerne ich jedoch, freier mit solchen Situationen umzugehen. Ich fühle, dass es nicht meine Aufgabe ist, die Menschen zu belehren oder Gott zu verteidigen. Oft nicke ich einfach nur schweigend und schaue dem Verzweifelnden so aufrichtig wie möglich in die Augen. Ich versuche, dem Schmerz des anderen innerlich Raum zu geben, ohne ihn zu verurteilen. Ich weiß, dass der Teil meiner Seele, der selbst verzweifelt und ohnmächtig ist, sich mit dem anderen verbinden kann. Ein anderer Teil in mir bleibt fortwährend in Gott gegründet. Und wenn es mir in schwierigen Situationen gelingt, bewusst diese Spannung widersprüchlicher Gefühle auszuhalten, so scheint es mir oft, dass damit von Mensch zu Mensch eine Brücke gebildet wird, die es mir und dem anderen möglich macht, inmitten des Schmerzes die liebende Anwesenheit Gottes im eigenen Bewusstsein aufscheinen zu lassen. Das Erleben der Liebe Gottes entsteht durch das Zulassen einer gemeinsam erlebten Ohnmacht.

Rudolf Steiner beschreibt diese seelische Dynamik in einem seiner Vorträge, den er während des Ersten Weltkrieges hielt. Der Vortrag richtet sich an diejenigen, die in den Kriegswirren als Pfleger dem Leiden anderer ausgesetzt waren und helfen wollten. Eine in dem Vortrag gegebene Meditation weist auf die Wechselwirkung hin, die sich in Schmerzsituationen zwischen Helfenden und Leidenden ergeben kann, zwischen Menschheit und Gottheit. Steiner regt an, dass man die folgenden Worte zu sich selbst spricht und dabei innerlich die ersten Zeilen an den leidenden Mitmenschen richtet:

»So lang du den Schmerz erfühlest,
Der mich meidet,
Ist Christus unerkannt
Im Weltenwesen wirkend;
Denn schwach nur bleibt der Geist,
Wenn er allein im eignen Leibe
Des Leidensfühlens mächtig ist.«

Die Möglichkeit, so führt Rudolf Steiner an anderer Stelle aus, in der scheinbaren Isolation des Schmerzes eine geistige Brücke zum anderen Menschen hin zu bauen, verdanken wir dem Christus: »Dass es so sein kann, dass die Menschheit allmählich dazu kommen kann, dass der Schmerz, der in dem andern lebt, uns nicht selber meidet, sondern in uns fort webt, dazu ist Christi Blut auf Golgatha geflossen. Darum suchen wir auch die Gesinnung, die hiermit angedeutet ist, gerade in diesen Zeiten in unseren Seelen zu verstärken.«
Im Aneignen einer solchen Gesinnung werden wir auch immer unserer eigenen Furcht und dem Bedürfnis nach Selbstschutz und Abgrenzung begegnen. Diese Furcht können wir in uns bewusst ergreifen und sie durch inneres Üben verwandeln, um in solchen Lebenssituationen die Gesinnung der Liebe auszustrahlen. Es scheint mir dabei immer hilfreich zu sein, gegenüber dem Christus anzuerkennen, dass ich selbst noch nicht die Kraft habe, mich im Moment in den anderen hineinzuversetzen und sein Leiden vollständig in mir zuzulassen. Christi überpersönliche Nähe wird dann zur ausgleichenden, mittragenden Kraftquelle. Das Übermaß des Schmerzes der Betroffenen begegnet unserem Bemühen, jetzt und hier eine Offenheit für das Geistige zu schaffen. Wenn dieses wache Mitleid gelingt, meidet uns der Schmerz nicht mehr, und der Christus kann im Mitmenschen und in uns helfend anwesend sein. Unser bewusstes Suchen des Christus hilft uns, seine Nähe auch in den verzweifelten Situationen herbeizurufen. Gemeinsam können wir den Schmerzbeladenen helfen, ihr Leid zu tragen. Dann gelingt auch die innere Seelsorgetätigkeit: den Leidenden, den Sterbenden auch auf seinem Weg über die Schwelle zu begleiten.