Biblische Begegnungen | Vom Wandel der Träume

AutorIn: Ruth Ewertowski

Die Träume des siebzehnjährigen Josefs, die er seinen Brüdern und auch seinem Vater erzählt, sind von solcher Art, dass man sie eigentlich nur für eitle Wunschträume halten kann: Die Korngarben der Brüder neigen sich vor der seinen, und sogar Sonne, Mond und elf Sterne verbeugen sich vor ihm (1. Mose 37,7-9). Es sind Träume, die man dem Träumer verübeln mag, und dennoch sind sie prophetisch. Aber sie erfüllen sich erst, nachdem Josef tiefe Erniedrigungen durchlebt hat. Das Besondere an der Geschichte ist, dass es zu diesen Erniedrigungen, die seine Erhöhung erst ermöglichen, kommt, weil sich Josef im Erzählen seiner Träume die Brüder so zu Feinden gemacht hat, dass sie ihn in den Brunnen werfen und verkaufen. Diese und weitere Herabsetzungen sind die Voraussetzung dafür, dass er sich auf seinem Schicksalsweg aus eigener Kraft zu einer nun »verdienten« Erhöhung ganz im Sinne seiner Träume hinaufwinden wird (vgl. meinen Beitrag in Heft 12/2018). Auf diesem Weg hilft ihm seine Fähigkeit, Träume deuten zu können. Waren seine eigenen Träume allzu selbsterklärend, so bedarf es für die des Mundschenks und des Bäckers, denen Josef im Gefängnis begegnet, der Auslegung. Diese Kunst allerdings nimmt Josef nicht für sich in Anspruch, sondern spricht sie allein Gott zu (1. Mose 40,8; 41,16). Dem Mundschenk kann Josef die Wiedereinsetzung in sein Amt voraussagen, dem Bäcker muss er dessen Hinrichtung verkünden. Er deutet, ohne nachzudenken, und mit einer Entschiedenheit, die von seinem Gottesbezug zeugen soll. Auch das Traumbild des Pharao von den fetten und mageren Kühen wird er so einleuchtend auslegen, dass er dadurch zum zweitmächtigsten Mann in Ägypten befördert wird. Damit ist er auf dem Weg zur Erfüllung seiner eigenen Jünglingsträume.
Die Menschen des Alten Testaments stehen vielfach durch ihre Träume in Verbindung mit der göttlichen Welt. Jakob z.B. träumt von einer Leiter, die auf der Erde steht und deren Spitze an den Himmel rührt. Auf dieser Leiter steigen Engel auf und nieder, und Gott steht oben auf vor Jakob und bekräftigt seinen Bund mit ihm, obwohl dieser vor Kurzem erst seinem Bruder Esau den Erstgeburtssegen abgelistet hat (1. Mose 28,12ff).
Dem König Salomo erscheint Gott des Nachts im Traum und fordert ihn auf, ihn um das zu bitten, was er ihm geben soll. Und Salomo bittet in Bescheidenheit um ein hörend gehorsames Herz, das weise und gerecht zu richten versteht. Das gefällt Gott, und Salomo bekommt dann im selben Traum darüber hinaus noch die klassischen Königsgaben von Reichtum, Ehre und einem langen Leben zugesprochen (1. Kö 3,5ff). Und tatsächlich wird alles so kommen, wie der Traum es kündete.
Dem Propheten Daniel wird in der Nacht das Geheimnis des Traumes des babylonischen Königs Nebukadnezar geoffenbart. Und ähnlich wie der Israelit Josef dem ägyptischen Pharao, so kann der Israelit Daniel dem Babylonier seinen Traum deuten, was zuvor dessen eigene Zeichendeuter und Wahrsager nicht vermochten. Nebukadnezars Traum von einem riesigen Standbild aus Gold, Silber, Bronze, Eisen und Ton, das von einem Stein zerstört wird, während dieser Stein, der das Bild zerschlug, selbst zu einem großen, die ganze Welt erfüllenden Berg wird, kann nur bedeuten, dass Gott nach den irdischen Reichen, die zerstört werden, ein ewiges himmlisches Reich errichten wird. Beeindruckt und überzeugt von dieser Deutung wirft sich Nebukadnezar vor Daniel nieder, erkennt den Gott Israels als den höchsten an und erhebt den israelitischen Propheten über alle Weisen Babels (Dan 2).
Auch wenn es kritische Stimmen gegenüber Träumen gibt und davor gewarnt wird, dass angemaßte Propheten mit ihren Nachtgesichten Anspruch auf die Vermittlung göttlicher Botschaften erheben, faktisch aber nur ihre eigenen Ideen verbreiten,1 so ist der Traum im Alten Testament doch in der Hauptsache ein Offenbarungsmittel Gottes, und zwar eines das zu einem tragenden Element der weiteren Geschichte wird. Am wirkungsvollsten löst sich die Traumoffenbarung bei Josef ein. Ja, hier greift sie geradezu wie eine handelnde Person in die Geschichte selbst ein, wird zum Auslöser für das Handeln der Beteiligten, ohne dass der Traum selber Anweisungen gäbe.
Im Neuen Testament sind Träume hingegen weitaus seltener und auch viel magerer. Paulus z.B. führt in keinem seiner Briefe einen Offenbarungsempfang auf Träume zurück. Lukas allerdings erwähnt in der Apostelgeschichte vier nächtliche Erscheinungen, die Paulus den Weg weisen und ihn in seiner Mission, das junge Christentum zu verbreiten, unterstützen (Apg 16,9; 18,9; 23,11; 27,23). Doch haben all diese »Träume« nicht die Opulenz und Bildhaftigkeit ihrer alttestamentlichen Vorgänger. Sie wirken eher pragmatisch im Sinne unmittelbarer Handlungsanweisungen (gehe dorthin) oder seelischen Beistands (fürchte dich nicht).
Genau so sind auch die Träume im Matthäusevangelium angelegt, dem einzigen Evangelium, in dem überhaupt geträumt wird. Es sind genau sechs Träume, die hier erwähnt werden. Sie haben in keiner Weise jenen Offenbarungscharakter wie die des Alten Testaments, und sie müssen auch nicht gedeutet werden, denn es sind klare Ansagen, mit denen ein Engel oder Gott selbst eine Handlungsanweisung gibt.
Vier von den sechs Träumen hat Josef, der Mann der Maria. Sie dienen alle dazu, den Weg Jesu in die Welt zu bahnen und zu sichern: Im ersten Traum erscheint Josef der Engel des Herrn, um ihn von seinem Vorhaben, seine schwangere Braut Maria heimlich zu verlassen, abzubringen, und dem Kind, das sie gebären wird, den Namen Jesus zu geben (Mt 1,20ff). Im zweiten Traum befiehlt ihm der Engel des Herrn mit Maria und dem Kind vor Herodes nach Ägypten zu fliehen (Mt 2,13) und im dritten wird ihm die Rückkehr nach Israel geboten (Mt 2,19). In einem vierten Traum schließlich bekommt Josef die Anweisung, sich in Nazareth niederzulassen, damit das Prophetenwort von dem Messias als »Nazoräer« erfüllt werde (Mt 2,22f).
Nach dem ersten Traum Josefs war noch ein weiterer »Befehlstraum« an die drei Magier ergangen, denen Gott, nachdem sie dem Jesuskind ihre Gaben von Gold, Weihrauch und Myrrhe dargebracht hatten, gebot, nicht mehr zu Herodes zurückzukehren (Mt 2,12). Auf diese Weise erfährt Herodes den Aufenthaltsort Jesu nicht, und da er sich betrogen sieht, lässt er den grausamen Kindermord befehlen, vor dem zu fliehen, Josef zuvor schon die Traumesanweisung erhalten hatte.
Über die Träume greift Gott am Anfang massiv in die Geschichte Jesu ein. Später aber geschieht das nicht mehr. Man kann sich fragen, ob die Traumesoffenbarung mit der Inkarnation Christi hinfällig wird. Wenn das Wort Fleisch und lebendig wirksam wird, dann waltet eine Klarheit, der nur die Wachheit des Geistes angemessen ist. Die Offenbarung Gottes in der Menschwerdung Christi geht mit dem Ende des träumerischen Bewusstseins einher. Dennoch scheint es auch in den Evangelien etwas zu geben, das wie an die Stelle der Träume im Alten Testament tritt. Es sind die Gleichnisse, die Christus erzählt und die ähnlich wie die Träume auch einer Auslegung bedürfen. Man muss sie verstehen lernen, und genau das kann man in der Nähe zu Christus. Deshalb sollten die Jünger in der Lage sein, die Gleichnisse zu verstehen: »Euch ist´s gegeben, die Geheimnisse des Himmelreichs zu verstehen, diesen aber ist´s nicht gegeben«, sagt Christus auf die Frage, warum er in Gleichnissen zu ihnen spricht (Mt 13,11).
Aber einen Traum gibt es am Ende doch noch. Es hat einen bislang vielleicht noch kaum wahrgenommenen tiefen Sinn, dass der letzte Traum, von dem Matthäus berichtet, einer ist, den die Frau des Pilatus, eine Heidin also, träumt und der irgendwie auf die Rettung Christi vor seiner Hinrichtung zu zielen scheint. Als ihr Mann über Christus richten soll, schickt sie zu ihm und lässt ihm sagen: »Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; denn ich habe heute viel erlitten im Traum um seinetwillen« (Mt 27,19). Die Heidin ist es, die noch träumt, aber sie träumt erkennend. Sie sieht, dass Christus kein Verbrecher, sondern ein Gerechter ist. – Pilatus hat nicht wirklich nach Maßgabe ihres Traumes gehandelt. Aber auch er fragt die, die das »Lass ihn kreuzigen« schreien, was Christus denn Böses getan habe. Dann allerdings, nachdem er seine Hände in Unschuld gewaschen hat und damit wohl dem »Habe du nichts zu schaffen mit …« seiner Frau zu entsprechen sucht, lässt er den Dingen ihren Lauf, und Christus geht in den Tod.
Es ist bezeichnend, dass die Exegeten dieser Matthäus-Stelle in zwei entgegengesetzte Richtungen auslegen: Die einen nehmen an, dass der Traum der Frau des Pilatus von Gott kommt (so Johannes Chrysostomus, Ambrosius von Mailand, Johannes Calvin), für die anderen kommt er von Satan (Beda Venerabilis, Anselm von Laon, Martin Luther). Wer Satan für den Urheber des Traumes hält, geht davon aus, dass dieser verhindern wollte, dass Christus gemäß einem göttlichen Heilsplan gekreuzigt wird. Denn Satan habe so die Erlösung der Menschheit unmöglich machen wollen. Tatsächlich spitzt sich hier das alte Problem der Instrumentalisierung des Bösen im Interesse des Guten zu, so als sei der Mord an Christus das Mittel zum Zweck des Heils. Gerade weil hier, gewissermaßen in letzter Sekunde, das »Gelingen« von Golgatha noch einmal auf dem Spiel steht, legt sich einem rational-mechanischen Denken eine solche Interpretationen nahe. Es ist die Sichtweise »ex post«, also nach geschehener Tat, die dazu verführt. Aber an dieser Stelle ist die Frage: »Was wäre gewesen, wenn Pilatus nach dem Traum seiner Frau Christus freigesprochen hätte?« die eigentlich satanische, denn sie versucht, den Lauf der Dinge wieder rückgängig zu machen, so als wäre alles noch anfänglich und noch gar nicht geschehen.
Es ist die Aufgabe unserer Zeit – der Zeit nach der der Träume und Gleichnisse –, mit der ganzen Spannkraft der Bewusstseinsseele, dem ungeheuren Paradox des Evangeliums so gerecht zu werden, dass wir nicht mehr entweder Gott oder den Teufel als die Urheber unseres Seelenlebens ansetzen und erst recht keine Handlungsanweisungen von ihnen erwarten. Die Frau des Pilatus hat ihren eigenen Traum geträumt. Sie ist nicht Sprachrohr guter oder böser Mächte. Eher ist ihr Traum der Niederschlag einer Christus-Wahrnehmung vom Tage. In ihrem Traum litt sie um einen, den andere verkannten.