Der letzte Briefband ist der interessanteste

AutorIn: Frank Hörtreiter

Christian Morgensterns Leben wirkt im verfestigt scheinenden Ende der Gründerzeit geradezu als deren Gegenbild: stets auf Reisen und im Austausch mit zahllosen Dichtern und Literaten. Das macht ihn auch zu einem der rührigsten Briefschreiber. Doch diese Reisebereitschaft prägte ihn auch innerlich: Er fand in Rudolf Steiner den Lehrer, dessen Vorträgen er durch Europa nachreiste. Dieser dritte Briefband (1909 – 14) nun spiegelt Morgensterns Fortschreiten zur Anthroposophie (damals noch Theosophie) und zugleich die tiefe Liebe zu Margareta Gosebruch-von Liechtenstern. Die beiden fanden einander und kämpften gegen ihre Familien darum, dass sie heiraten konnten. 

Das Drama dieser – immer von Morgensterns Krankheit überschatteten und zugleich von der inneren Wanderbereitschaft gesegneten – Lebensgemeinschaft spiegelt sich in dem Briefband ebenso wie die rastlose Arbeit an den Dichtungen und auch als Verlagslektor, der für Bruno Cassirer die Literatur seiner Zeit sichtete und beurteilte. Zugleich fühlt man als Leser mit, wie dieser stille und gute Mensch darum kämpft, die alten Freunde nicht zu verlieren (so etwa Friedrich Kayssler, der zunächst von Morgensterns Hinwendung zur Anthroposophie verstört ist) und sich erfolgsarm müht, mit seinem narzisstischen Vater zum Frieden zu kommen. Man kann sich kaum vorstellen, wie er das durchgehalten hat – noch dazu stets materiell ungesichert – ohne seine Gefährtin Margareta. Diese Frau ist unbürgerlich wie ihr Mann und zugleich als Dame aus der »guten Gesellschaft« mit ihm durch Dick und Dünn gegangen. Dann hat sie in dem halben Jahrhundert ihrer Witwenschaft für sein Werk gelebt. Nun ist, ein weiteres Jahrhundert später, ein würdiger Abschluss seiner Dichtungen und Lebenszeugnisse erreicht. 

Die Briefe der letzten Phase herauszugeben, hat nun Agnes Harder als Nachfolgerin von Katharina Breitner und getreu dem Ansatz Reinhardt Habels unternommen. Rund 940 Seiten Briefe werden durch einen ausführlichen Kommentar erschlossen (noch einmal rund 520 Seiten Erläuterungen und Register). Es ist bewundernswert, wie sich die wissenschaftlich bestens geschulte Herausgeberin auch in die fremdartige Begriffswelt der frühen Anthroposophie eingearbeitet hat: Das zeigt sich in den Sacherklärungen für die theosophischen Themen ebenso wie in den Hinweisen nicht nur zu den Briefempfängern (deren Briefe ebenfalls abgedruckt werden), sondern auch zu den Wohnorten und Reisen. Allein das kommentierte Register der Personen, Orte und Begriffe umfasst 240 Seiten. Selten hat sich der Rezensent in einem Kommentarteil ebenso gern wie in den eigentlichen Brieftexten festgelesen. Das Zeitbild einer europäischen Kultur wird dadurch vielfarbig.

Einer der ersten Briefe an Margareta (23.1.1909, Nr. 1894, S. 18f) spricht im Grunde schon die innere Gesinnung aus, die die letzten fünf Jahre Morgensterns prägte: »Sieh, Geliebte, das dürfen wir selbst an uns als etwas Herrliches empfinden. Dass wir Menschen der Entwicklung sind und immer bleiben wollen. Wie oft glaubte ich schon am Ende und am Ziel zu sein – aber da war auch Verzweiflung nie weit: denn aller Glaube, am Ende, am Ziel zu sein, führt zuletzt zu Verzweiflung, und sei es auch der schönste Endgedanke. Nur nie an ein Definitivum glauben, immer sich bewusst halten: Die Welt ist unsagbar tief, ihrer Möglichkeiten ist kein Maass. Und darum: gehen, gehen, immer gehen. Es ist der Schritt, möchte ich sagen, der erobert. Und wenn es mit zusammengebissenen Lippen und geschlossenen Augen geschehen muss – nur immer gehen, gehen, gehen.«  

 

Christian ­Morgen­stern:
Werke und Briefe, Band IX:
Briefwechsel 1909 – 1914

Herausgegeben von Agnes Harder, Verlag Urachhaus, Stuttgart 2018,
1469 Seiten, EUR 98,–