Das Ideal der Gleichheit

AutorIn: Wolfgang Gädeke

Für viele Historiker ist es klar, dass eine Grundtendenz der Moderne oder sogar eine Grundkraft der geschichtlichen Entwicklung seit dem 15./16. Jahrhundert die Individualisierung des einzelnen Menschen ist. Diese ist verbunden mit dem Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung des einzelnen Menschen gegenüber den gesellschaftlichen und religiösen Autoritäten und zunehmend, vom 17. Jahrhundert an, von dem Ideal und dem Streben nach Gleichheit aller Menschen bestimmt. Woher kommt dieses Ideal der Gleichheit?

Die Verschiedenheit der Menschen nach Hautfarbe, Stämmen, Völkern, Sprachen und Geschlecht ist so eindrücklich und unmittelbar erfahrbar, dass die Idee der Gleichheit aller Menschen ganz sicher nicht aus der Wahrnehmung und dem unmittelbar sinnlichen Erleben stammen kann. Der Unterschied der Geschlechter war in vielen Religionen und Kulturen sogar ein Bild für den Ursprung der ganzen Welt in ihrer Vielgestaltigkeit. Wie sollte man da auf die Idee der Gleichheit aller Menschen kommen?

Wenn man das Grundbuch unserer westlichen Kultur, die Bibel, zur Hand nimmt, so findet man darin zunächst das Wort Gleichheit nicht. Jedenfalls nicht in der Übersetzung von Luther. Und so verwundert es nicht, dass in dem grundlegenden katholischen Nachschlagewerk, dem Lexikon für Theologie und Kirche (LthK), wohl ein Artikel über Freiheit, aber keiner über Gleichheit zu finden ist! Auch in dieser Zeitschrift, die in diesem Jahr im 91. Jahrgang erscheint, gab es bisher keinen Aufsatz zu diesem Thema. Woher also kommt das Ideal der Gleichheit?

Schon in der demokratischen Verfassung der griechischen Polis gab es die gleichen Rechte für jeden »freien Mann«, die von Plato und Aristoteles philosophisch begründet wurden. Damit waren aber die Frauen und Sklaven, auf denen das Wirtschaftsleben beruhte, und damit die Mehrheit der Menschen, nicht gemeint.

 

Der englische Philosoph John Locke (1632 – 1704) war der erste, der die Gleichheit aller Menschen aus dem Schöpfungsbericht der Bibel herleitete. Er bezog sich dabei auf das 1. Buch Moses: »Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, nach dem Bilde Gottes schuf er ihn; als Mann und Weib schuf er sie« (1. Mose 1,27). Aus dieser in der Bibel bezeugten Gottebenbildlichkeit von Mann und Frau leitete er den Gedanken ab, dass Mann und Frau im Prinzip gleich geschaffen seien. Obwohl im hebräischen und griechischen Text nicht die Hauptworte Mann und Frau stehen, sondern die Eigenschaftsworte männlich und weiblich, und man daher übersetzen muss: »und er schuf ihn [den Menschen] männlich und weiblich«, hatte dieser Gedanke, dass alle Menschen gleich geschaffen seien, im 18. Jahrhundert große politische Wirkung. So fand er als politische Forderung Eingang in die Unabhängigkeitserklärung Amerikas von 1776 und in die Losung der Französischen Revolution von 1789: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. In beiden Fällen aber wird nicht ausdrücklich von der Gleichheit von Mann und Frau gesprochen, denn sie war auch nicht gemeint; sondern die Forderung nach Gleichheit bezog sich zunächst ausschließlich auf die Unterschiede der Stände. Erst 1791 forderte Olympe de Gouges für das soziale und politische Leben die volle Gleichberechtigung von Mann und Frau, ohne dass diese Forderung zunächst anerkannt und verwirklicht wurde. Frauen und Sklaven waren auch 2100 Jahre nach Plato und Aristoteles mit dem Ideal der Gleichheit vor dem Gesetz noch nicht gemeint.

Für Deutschland wurde erst in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 festgelegt: »Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten«. Dieser Grundsatz bezog sich allein auf das Staatsrecht und noch nicht auf das Zivilrecht, so dass er noch keine Auswirkungen auf die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs hatte. Damit dies eintreten konnte, kämpfte eine der Mütter des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, Elisabeth Selbert, letztlich erfolgreich dafür, die Gleichberechtigung von Mann und Frau in die Verfassung aufzunehmen. So kam es im Grundgesetz zu der Formulierung: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt«. Die Realisierung dieser Forderung des Grundgesetzes wurde nur schrittweise vollzogen und ist bis heute nicht vollendet. Aber in der Menschenrechtekonvention der Vereinten Nationen von 1948 ist sie mit dem Satz verankert: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« 

Mit diesem Satz werden die Ideale der Freiheit und Gleichheit nicht aus der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit abgeleitet und auch nicht auf eine solche angewendet, sondern sie werden bezogen auf die nur geistig zu erfassenden Bereiche der Würde und des Rechtes des Menschen. Denn die Würde des Menschen besteht darin, dass er im tiefsten Grunde ein geistiges Wesen ist, das mit der Fähigkeit und Aufgabe begabt ist, ein freies, schöpferisches Wesen zu werden. Dies gilt für alle Menschen unabhängig von Hautfarbe, Sprache, sozialem Status und Geschlecht. Um diese Entwicklung zu ermöglichen, braucht der einzelne Mensch bestimmte Rechte, die ihm von seiner Gemeinschaft zugesprochen werden, die Menschenrechte.

 

Wenn wir nun noch einmal fragen: woher kommt das Ideal der Gleichheit?, so kommen wir zu der erstaunlichen Feststellung, dass es keimhaft schon im Neuen Testament, besonders in den Briefen des Paulus zu finden ist! Im ersten Brief an die Korinther schreibt er: »Wir sind alle mit einem Geiste getauft und dadurch zu einem Leibe geworden, ob wir Juden oder Griechen, ob wir Sklaven oder Freie sind; und alle sind wir mit einem Geiste getränkt worden« (1. Kor 12,13). Nach der Auffassung des Paulus wird der Christ durch die Taufe mit der Kraft des göttlichen »Ich bin« durchdrungen, das in Jesus erschienen ist, dass demgegenüber alle völkischen und sozialen Unterschiede unwesentlich werden.

Und im Brief an die Römer schreibt er: »Denn vor Gott gibt es keinen Unterschied der Person« (Röm 2,11). Dabei muss man bedenken, dass mit Person das Angesicht, die äußere Erscheinung eines Menschen gemeint ist, die eben nach Geschlecht, Volk und Hautfarbe sehr verschieden sein kann. Damit kommt der Gedanke auf: vor Gott sind alle Menschen gleich. Dieser Gedanke wird noch deutlicher im Brief an die Galater: »Ihr alle, die ihr auf Christus hin getauft seid, habt euch mit dem Wesen Christi bekleidet. Jetzt gibt es nicht mehr Juden oder Griechen, nicht mehr Sklaven oder Freie, nicht mehr Mann und Frau, denn ihr seid alle Einer in Christus Jesus« (Gal 3,27f). Hier erscheint ausdrücklich das Ideal der Gleichheit unabhängig von Herkunft (Volk und Hautfarbe), sozialem Status und Geschlecht. Aber diese Gleichheit erscheint gebunden an die Verbindung mit dem göttlichen »Ich bin«.

 

Dieser Gleichheit von Mann und Frau vor Gott scheint zu widersprechen, was Paulus auch an die Korinther geschrieben hat und was gemeinhin tradiert wird in dem Satz: »Das Weib schweige in der Gemeinde« (1. Kor 11,4–10, 1. Kor 14,34f und 1. Tim 2,11f). Dass dies nicht absolut gemeint sein kann, hat Heinrich Ogilvie in seiner Übersetzung des Neuen Testamentes bei der Besprechung dieser Stellen in seinen Anmerkungen dargestellt.1 Dies wird auch deutlich in der Fortsetzung der ersten genannten Stelle: »Jedoch im Herrn besteht weder das Weibliche ohne das Männliche noch das Männliche ohne das Weibliche. Denn wie die Frau aus dem Mann hervorgegangen ist [bei der Geschlechtertrennung 1. Mose 2,21–24)], so hat doch der Mann sein Dasein durch die Frau. Das Ganze ist von Gott ausgegangen« (1. Kor 11,11f). Aber Paulus meint nicht nur die spirituelle Gleichheit von Mann und Frau vor Gott, sondern er hat sich auch für die Gleichheit zwischen Mann und Frau im sozialen Leben ausgesprochen. Im siebten Kapitel des ersten Korintherbriefes, in dem es um Ehe und Jungfräulichkeit geht, schreibt er: »Der Mann sei bestrebt, der Frau gerecht zu werden und ebenso die Frau dem Mann. Die Frau bestimmt nicht selbst über ihre Leiblichkeit, sondern lässt den Mann bestimmen; und ebenso bestimmt der Mann nicht selbst über seine Leiblichkeit, sondern die Frau« (1. Kor 7,34).

Hier ist, soweit ich sehen kann, zum ersten Mal durch die absolute Parallelität der Sätze die Gleichberechtigung von Frau und Mann in der kleinsten sozialen Einheit, der Ehe, das Ideal der Gleichheit im sozialen Leben ausgesprochen. Von der prinzipiellen geistigen Gleichwertigkeit jedes Menschen-Ich, die im Neuen Testament verkündet wird, bis zur Verwirklichung der vollen Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Menschen im sozialen Leben – trotz aller persönlicher Verschiedenheiten – ist es ein langer und mühsamer Weg in der Geschichte der Menschheit. Und wir sind noch lange nicht am Ziele angekommen. Wir sehen in allen Teilen der Welt, dass dieses Ideal in immer mehr Menschen aufleuchtet und sogar in den Seelen von Mädchen und Frauen mächtig wirksam wird, die in von Männern dominierten Kulturen aufwachsen, auch wenn sie vom christlichen Ursprung dieses Ideals nichts wissen.  

 

1  Heinrich Ogilvie: Das Neue Testament, Stuttgart 1996,  ­Anmerkung 65 und 66 auf Seite 560