Beziehungspflege

AutorIn: Wolfgang Gädeke

Jeder Mensch steht in Beziehung zu anderen Menschen, denn der Mensch kann nur durch Beziehungen zu anderen existieren. Diese Beziehungen aber geschehen und funktionieren auf Dauer nicht befriedigend von Natur aus, vielleicht mit Ausnahme der ersten Mutter-Kind-Beziehung, sondern sie müssen bewusst gestaltet, gepflegt werden. So ist in jeder Firma, in jedem Betrieb das Beziehungsnetz der Mitarbeiter untereinander, zu den Vorgesetzten oder Untergebenen von entscheidender Bedeutung für den Erfolg des Unternehmens. Fachkenntnisse der einzelnen Mitarbeiter reichen nicht aus, um diesen zu garantieren. Deswegen wird zunehmend Wert gelegt auf die sogenannten »soft skills«, die »weichen Fähigkeiten«, also auf das, was man auch Sozialkompetenz nennt. Und deswegen gibt es auch immer mehr Fortbildungen für Mitarbeiter, damit diese Fähigkeiten gebildet und weiterentwickelt werden können.
Soziale Fähigkeiten aber unterscheiden sich von technischen oder sprachlichen Fähigkeiten dadurch, dass der Gegenstand ihrer Anwendung, also die Beziehung, kein Ding und keine feste Größe, sondern so etwas wie ein lebendiges Wesen ist. Deswegen ist der Ausdruck »Pflege« für den Umgang mit Beziehungen angemessen. Er verweist uns auf den notwendigen Umgang des Menschen mit Lebewesen, mit Pflanzen und Tieren. Daher stammt auch der Ausdruck »Kultur« von lateinisch »colere«, pflegen. Beziehungen zwischen Menschen »funktionieren« eben nicht, genauso wenig wie zu Pflanzen und Tieren, sondern sie müssen vom Menschen geschaffen und dann gepflegt werden.
Beziehungen sind fast nie Selbstzweck, sondern sie dienen einem Ziel, das über sie selbst hinausweist: Ein Lehrerkollegium ist dazu da, Schüler zu unterrichten und zu erziehen; ein Klinikteam will Menschen bei der Genesung helfen; eine Hofgemeinschaft gesunde Ernährung produzieren usw.
Aber es gibt auch Beziehungen, die ihren Sinn in sich selber tragen, wie zum Beispiel Freundschaften. Die umfassendste Form dieser Art von Beziehungen ist die Ehe, die dauernde Lebensgemeinschaft, weil sie alle Aspekte des Menschseins betrifft. Deswegen kann man an ihr die Aspekte der Beziehungspflege aufzeigen.
Grundlage einer dauernden Lebensbeziehung zwischen zwei Menschen ist die seelische Beziehung zwischen ihnen, sonst würden zwei freie Individualitäten eine solche Gemeinschaft nicht eingehen. Diese Seelengemeinschaft entsteht zunächst durch natürlich auftretende Gefühle wie Sympathie und Verliebtheit. Es zeigt sich aber, dass diese Gefühle auf Dauer als Grundlage für eine Ehe nicht ausreichen, weil sie sich, wenn »ungepflegt«, verflüchtigen. Will man dies vermeiden, so kann die Seelengemeinschaft im Wesentlichen auf zweierlei Weise gepflegt werden: auf der einen Seite durch das Seelengespräch, d.h. durch eine verbale Kommunikation, die darauf gerichtet ist, sich gegenseitig seelisch wahrnehmbar zu machen und dadurch vom Partner gesehen, verstanden und angenommen zu fühlen. Das Fehlen oder die Mangelhaftigkeit einer solchen Kommunikation ist fast immer der Hauptgrund seelischer Entfremdung und ehelicher Probleme. Auf der anderen Seite ist zur Pflege der Seelengemeinschaft sehr förderlich, wenn die Partner durch gemeinsames Erleben der Welt, sei es in der Natur oder in der Kultur, und durch gemeinsame Tätigkeit gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit, ihre Seele auf den gleichen Gegenstand richten.
Die wichtigste Ebene der Beziehungspflege in der Ehe ist aber der Bereich des Lebens. Denn Ehe ist eben Lebensgemeinschaft. Das bedeutet nicht nur, dass zwei Menschen in einem Haushalt zusammenleben – was die Grundlage des Eherechtes ist –, sondern ihre Lebensvollzüge gemeinsam gestalten. Deswegen sprach man früher von der »Gemeinschaft von Tisch und Bett«, also von Essen und Schlafen. Dadurch entsteht allmählich eine Gemeinschaft der Lebenskräfte, anthroposophisch gesprochen eine Ätherleibgemeinschaft. Das kann man schon in seinen Anfängen beobachten, wenn zwei Menschen »kuscheln«, also ohne sexuelle Aktivität in Ruhe nahe beieinander liegen. Dann synchronisieren sich unwillkürlich der Atem und der Puls als wesentlicher Ausdruck der Lebensvorgänge.
Zu dieser Ebene des Menschseins gehören auch die Gewohnheiten und das Temperament als Grundlage des Seelenlebens. Aus diesem weitgehend unbewussten Teil unseres Wesens stammen auch die gemeinschaftsstörenden »Aktivitäten« unserer Seele wie Faulheit, Bequemlichkeit und jegliche Form von Übergriffigkeit. Daher »verwildert« die Lebensgemeinschaft wie jeder ungepflegte Garten, wenn sie nicht bewusst in Kultur genommen wird. Das geschieht zum Beispiel dadurch, dass die Partner unnötige oder ungute Gewohnheiten ablegen oder ändern und gemeinsame Gewohnheiten einrichten und pflegen. Am wirksamsten sind auf diesem Felde das gemeinsame Erleben und Betätigen einer Kunst, zum Beispiel der Musik, und eine gemeinsame Pflege der Religion in Gebet und Gottesdienst, weil diese kulturellen Betätigungen am stärksten positiv verwandelnd in die Kräfte der Lebensgemeinschaft eingreifen können.
Auch die Leibesgemeinschaft, die in der Geschlechtlichkeit ihren tiefsten Ausdruck findet, bedarf der Kultur. Wenn beide Partner auf diesem Felde nur ihre Natur ausleben, so ist das ein sicherer Weg in den Zerfall der Gemeinschaft. Besonders die männliche Sexualität bedarf der Vermenschlichung, weil sie fortwährend in der Gefahr ist das Gegenüber zum Objekt zu degradieren. Diese Vermenschlichung ist aber ohne aktiven Beitrag des weiblichen Partners meist nicht zu leisten.
Vollmenschlich ist eine Lebensgemeinschaft erst dann, wenn sie auch eine Geistgemeinschaft ist, d.h. wenn sie über die gegenseitige Befriedigung leiblicher und seelischer Bedürfnisse hinausreicht. Früher bestand der Sinn der Ehe in erster Linie darin, Nachkommen zu erzeugen. Auch heute kann es eine sinnvolle Zielsetzung sein, eine möglichst gute Grundlage für das Heranwachsen von Kindern zu schaffen. Aber heute kann bei der um Jahrzehnte längeren Lebenserwartung der Sinn einer dauernden Lebensgemeinschaft sich nicht darin erschöpfen. Wie bei jeder gemeinsamen Arbeit muss zum Gelingen einer Lebensgemeinschaft immer wieder gefragt werden: was wollen wir erreichen? Was ist Sinn und Ziel unserer Lebensgemeinschaft? Gemeinsame Bemühungen um Fragen der Weltanschauung, der Moral und der Religion, aber auch wissenschaftliche Fragestellungen können die Geistgemeinschaft stärken.
Je sorgfältiger und umfassender die Gemeinschaft in allen vier Bereichen aktiv gepflegt wird, desto befriedigender wird sie für die Beteiligten sein und desto mehr wird sie eine Ausstrahlung in ihr soziales Umfeld hinein entfalten.