Widerspruchslösung oder aktive Entscheidung?

AutorIn: Ruth Ewertowski

Wer heute im Ausland verunglückt und die Diagnose »Hirntod« erhält, muss damit rechnen, dass er, auch wenn er sich nicht explizit dafür entschieden hat, zum Organspender wird. Natürlich »rechnet« er in dieser Situation mit nichts mehr, denn sein Gehirn ist in all seinen Funktionen ausgefallen und wird sie auch nicht mehr wieder aufnehmen. Die jetzt auch für Deutschland zur Diskussion gestellte »Widerspruchslösung« gilt bereits in 18 Ländern in unserer Nachbarschaft.2 Sie besagt, dass wer »zu Lebzeiten«, sprich zu Zeiten, in denen sein Gehirn voll funktionstüchtig ist, nicht widerspricht, der wird im Falle irreversiblen Hirnversagens automatisch zum Organspender. Es ist eine Regelung, die den Mangel an Spenderorganen beheben soll. Studien zeigen, dass damit 20 bis 30 % mehr Spender zu erwarten sind.3 Die Frage ist nun, ob es zu einem solchen Zuwachs an Spendern im Fall der Widerspruchslösung deshalb kommt, weil bei einer an sich positiven Einstellung zur Organspende, doch nur die wenigsten den aktiven Schritt tun, einen Organspendeausweis bei sich zu tragen (2018 war es etwa ein Drittel), oder ob umgekehrt einfach aus Unkenntnis dessen, was bei einer Organtransplantation auf den Operationstischen der durchführenden Kliniken geschieht, eine gewisse Unbekümmertheit verhindert, dass ein explizites Nein hinterlegt wird.
Liest man Berichte von Pflegekräften, die dem von der »Deutschen Stiftung Organtransplantation« bereitgestellten Entnahmeteam bei der Explantation assistieren sollen, so kann einem ganz anders werden.4 Die Operation beginnt mit einem riesigen Schnitt – oft vom Kinn bis zum Schambein –, wie man ihn bei keiner anderen OP macht. Die Körperhälften werden auseinandergespreizt, das Brustbein wird aufgesägt, es werden Chirurgen verschiedenster Fachrichtungen tätig. Blutdruck und Herzfrequenz steigen an. Als Hirntoter sollte der »Patient« eigentlich keine Schmerzen mehr empfinden, aber kann man das sicher wissen? Viele Anästhesisten spritzen doch ein Schmerzmittel und führen eine Narkose durch. Zuckungen jedenfalls sind als Reflexe häufig. Die Muskelspannung muss mit Medikamenten gelöst werden, um die Organentnahme nicht zu behindern. Gebraucht wird alles: Nieren, Leber, Lunge, Pankreas, Dünndarm, die Hornhaut des Auges, Knorpelgewebe, Gehörknöchelchen, Knochengewebe, Gelenke, Haut und das Herz. Dieses wird zuletzt entfernt. Eiskalte Perfusionslösung umspült es, die Geräte werden abgeschaltet, der Herzstillstand tritt ein. Eben schlug es noch, jetzt wird es verpackt und zum Empfänger transportiert.
Am Ende ist alles entnommen. Der Körper des Spenders ist leer. Es ist viel telefoniert worden, Springer halten Handys an die Ohren der Chirurgen, um die verschiedenen Empfänger zeitnah auf ihr neues Organ vorbereiten zu lassen und die Einzelteile über Europa zu verteilen. Der Tote wird zugenäht. Das entnehmende Ärzteteam geht. Die Versorgung des Leichnams bleibt den Krankenpflegern. Sie ist anders als sonst: So sind z.B. die Augen für ein »normales« Aussehen ein Problem, denn sie wurden ja wegen der Hornhäute entnommen. Der Mensch, der noch warm und rosa in den OP geschoben wurde, ist nun eingefallen und kalkweiß, weil völlig entblutet.
Ich habe hier nur wenig von dem wiedergegeben, was man in Erfahrungsberichten der Pflegenden und Angehörigen, die den ausgeweideten Körper noch ein letztes Mal sehen, lesen kann.5 Es ist auf jeden Fall keine Situation, in der es eine Sterbebegleitung gibt. In den vier, fünf Stunden dieses Sterbens ist kein Gebet gesprochen worden. Man kann sie als das notwendige Übel für die Erhaltung von vielen anderen Leben sehen. Andere werden sie als Frevel empfinden. Auf jeden Fall muss man sich klarmachen, was geschieht, um sich aktiv und frei dafür oder dagegen zu entscheiden. Die sogenannte Widerspruchslösung setzt darauf, dass man genau dies nicht tut, also durch Nichthandeln zustimmt.