Kraft (wieder)finden

AutorIn: Markus Sommer

Ein unbelebter Stein wird von der Erde angezogen und fällt zu Boden. Eine belebte Pflanze kann sich darüber hinaus dem Himmel und der Sonne entgegenstrecken. Es lebt eine Kraft in ihr, die sich der Schwere widersetzt. Schwerkraft wirkt vom Zentrum der Erde aus, Lebenskräfte (oder ätherische Kräfte) wirken aus der Peripherie des Kosmos. So etwa führte Rudolf Steiner einmal eine für jede Krankheitserkenntnis grundlegende Polarität aus. 

Unzweifelhaft sind alles Leben, alle Bewegung, alles in die Leichte Streben auf der Erde von den Wirkungen der Sonne abhängig. 

Die Spannung von Schwere und Leichte können wir auch an jedem Tier sehen, und wir fühlen sie jeden Tag in uns selbst. Manchmal stehen wir gleich nach dem Erwachen aufrecht und wissen kaum, wie das gekommen ist, manchmal wissen wir kaum, wie wir es schaffen sollen, den schweren Leib aus dem Bett zu stemmen.

Natürlich geht es hier nicht nur um physische Schwere und ätherische Lebendigkeit, auch die seelische Gestimmtheit bringt uns entweder in Schwung oder sie bremst uns aus. Und nicht zuletzt ist es die Kraft unseres Ichs, die unsere Ziele bestimmt und sich in unserem Wollen verwirklicht, die Hemmungen zu überwinden hilft oder ihnen unterliegt.

Man sieht: Bei der Frage nach der »Kraft«, die man wiedergewinnen möchte, muss man genauer hinschauen. Wenn es an Kraft fehlt, muss man klären, weshalb das so ist. Oft kommt man ja selbst darauf, beispielsweise weil man einfach zu wenig geschlafen hat, weil man nach einer Erkältung noch nicht wieder ganz »auf dem Damm ist« oder weil die Aufgabenfülle einfach mehr Kräfte verlangt, als vorhanden sind. Jeder kennt es auch, dass eine Enttäuschung, eine Traurigkeit, eine Frustration dazu führen kann, dass wir uns schwach fühlen, Begeisterung, Verliebtheit, Freude dagegen Kräfte wirksam werden lassen, die wir nicht geahnt haben. Aber manchmal ist uns nicht klar, weshalb die Kraft, die früher selbstverständlich zur Verfügung stand, jetzt weg ist. Dann gilt es eine Diagnose zu stellen. Dieses Wort stammt vom griechischen »dia« = »hindurch« (wir kennen es vom durchleuchteten Diapositiv) und dem bedeutungsschweren Wort »gnosis«, das im weitesten Sinn »Erkenntnis« bedeutet. Um eine Diagnose zu stellen, müssen wir eine Situation umfassend durchleuchten und zu richtiger Erkenntnis durchdringen. Das gelingt oft nicht im Alleingang, dazu braucht es eine Begegnung, einen Austausch – eventuell auch mit einem Arzt.

Wenn ein Patient über fehlende Kraft klagt, muss ich nachhaken. Wenn es allgemein an Kraft fehlt und eine früher leicht erklommene Treppe zur Herausforderung wird, mag es an einer Herz- oder Lungenkrankheit liegen. Wenn die eine Körperseite schwach, die andere aber kräftig ist, kann das an einem Schlaganfall oder einer anderen Nervenstörung liegen. Auch Schilddrüsenerkrankungen oder Vitaminmangelzustände sind häufige Ursachen von Kraftlosigkeit. All dies kann durch ein sorgsames Anamnesegespräch, eine gründliche körperliche Untersuchung und durch einige Labortests erkannt werden. Unter diesen ist die »Blutsenkungsuntersuchung« technisch einfach, genügt es doch, abgenommenes Blut mit einem Salz der Zitronensäure ungerinnbar zu machen und zu beobachten wie schnell die roten Blutzellen zu Boden sinken. Tun sie das schneller als normal, überwiegen also die Schwere- gegenüber den Auftriebskräften, so ist der Patient körperlich krank. Entzündungsprozesse können ebenso dahinter stecken wie Hormonstörungen oder Tumorerkrankungen. Tatsächlich können auch diese schon im Frühstadium Kraft kosten. Einmal erzählte mir ein Patient, dass er sich seit Monaten »schlapp« fühle und er beim eurythmischen Schreiten zu wackeln begonnen habe, solange er auf einem Bein steht. Erst beim Abtasten des Bauches hatte ich das Gefühl, dass der Darm genauer angesehen werden müsse, und eine Darmspiegelung zeigte schließlich einen Polypen im Darm, aus dem später einmal eine Krebserkrankung hätte werden können, wenn er nicht entfernt worden wäre. Verblüffend war, dass Schreiten und Kraftgefühl sich bald nach der Abtragung des Polypen im Zuge der Darmspielung normalisiert hatten.

Manchmal nutze ich auch die Möglichkeiten der »Kupferchloridkristallisation«. Dass »ätherische Kräfte« den »Schwerekräften« gegenüberstehen und deren Verhältnisse zueinander unser Kraftgefühl bestimmen, wurde erwähnt. Physische Kräfte kann man mit physischen Methoden untersuchen. In jeder Arztpraxis geschieht das beispielsweise mit Thermometer oder Waage. Wie es den Lebenskräften geht wird oft unbewusst wahrgenommen und drückt sich beispielsweise darin aus, dass man jemanden als krank oder gesund wahrnimmt, als (jenseits des messbaren) »leicht« oder »schwer«, »hell« oder »dunkel« usw. Man kann sich in solchen Wahrnehmungen tief schulen, letztlich handelt es sich dabei aber um »übersinnliche« Erlebnisse, die sicher den meisten von uns weitaus weniger zur Verfügung stehen als die sinnlichen. So wurde Rudolf Steiner einst die Frage gestellt, wie ätherische Kräfte sinnlich zur Darstellung gebracht werden können, woraus sich eben die Kupferchloridkristallisation entwickelte, mit der beispielsweise Anbauqualitäten von Früchten festgestellt, aber auch Hinweise auf Krankheitsprozesse aufgedeckt werden können. Auch mit Hilfe solcher Methoden konnte ich gelegentlich Tumore oder deren Vorformen als Ursache einer Kraftlosigkeit erkennen und auch hierbei feststellen, dass deren Entfernung (die dann auch tatsächlich vom Pathologen identifizierbares Krankheitsgewebe erbrachte) schließlich zur Regeneration der Kräfte führte.

 

Das Herz ist unser Zentralorgan, das lebenslange Kraft und Beweglichkeit auszeichnet. So überrascht es vielleicht nicht, dass derjenige, der sich darin geübt und ausgebildet hat, durch ein aufmerksames Lauschen auf die Herztöne Zugang auch zu den Kräfteverhältnissen der ganzen Organwelt des Menschen erhält und es möglich ist, Ursachen von Schwächezuständen auch am Herzen wahrzunehmen. Der Schweizer Arzt Kaspar Appenzeller hat eine Methode gelehrt, wie gerade das Verhältnis von Schwere und Leichte in den verschiedenen Organgebieten am Herz abgelauscht werden kann. Aber selbst durch elektronische Messung der »Herzratenvariabilität« lassen sich Überlastungen, chronische Stresserkrankungen und fehlende Regeneration abbilden und Ansätze für deren Behandlung finden. Auf vielfältige Weise gilt, dass das Herz durch die an ihm wahrnehmbaren Töne nicht nur von sich selbst, sondern auch vom ganzen Organismus spricht.

Viel häufiger als eine leibliche Krankheit liegt einem Kraftlosigkeitsgefühl eine Depression zugrunde, für welche ein Überwiegen von Schwereempfindungen geradezu typisch ist. In ausgeprägten Fällen kann es dem Betroffenen geradezu unmöglich sein, auch nur das Bett zu verlassen, und auch seelisch fühlt man oft eine Lichtlosigkeit. Tatsächlich gibt es Depressionen, die auf eine Lichttherapie durch Sonneneinwirkung oder Bestrahlung mit einer Speziallampe ansprechen oder auch auf eine Behandlung mit Johanniskraut (Hypericum), das in der lichtreichsten Jahreszeit um Johanni blüht und auch die Haut empfindlicher für Lichtwirkungen machen kann. 

Es muss ja auch nicht immer eine entfaltete Depression sein, die zu einem Gefühl mangelnder Kraft führt. Und dennoch kennen wir alle, dass wir unsere Kräfte durch Seelenerlebnisse in Schwung bringen können. Ein netter Abend mit Freunden, ein tiefes Gespräch, ein Musikerlebnis oder das Erleben eines Sonnenaufganges in den Bergen kann einen neue Kraft spüren lassen, wenn man müde geworden ist. 

In der Heileurythmie gibt es eine ganze Gruppe von Übungen, bei denen man innerliche Seelenerlebnisse (wie Hoffnung, Liebe, Verehrung etc.) in der Seele hervorruft und dann in eurythmische Leibesbewegungen einfließen lässt. Speziell diese Übungen sollen – »fleißig geübt« – gerade dazu dienen, die Sphäre der Lebenskräfte in uns zuverlässig zu stärken. Tatsächlich kann man die Wirksamkeit dieser Maßnahme buchstäblich am eigenen Leib erfahren. 

Dass Üben Kräfte stärkt, weiß jeder. Jeder Kraftsportler weiß es, nur ausdauerndes Wiederholen mit langsamer Steigerung des Anspruchs lässt Muskeln kräftiger werden. Nicht anders ist es mit seelischen Übungen, die auch in Form von Meditationen und inneren Übungen Kräfte in uns lebendig werden lassen. In manchen solcher Übungen kann man an Licht- und Wärmeerlebnisse und Sonnenwirkungen anschließen oder sich dankbar dem eigenen Herzen zuwenden, das eine Art innerer Sonne und stete Quelle von Bewegung und Kraft ist.

 

Eine solche Meditation Rudolf Steiners lautet:

 

Ich denke an mein Herz

Es belebet mich

Es erwärmet mich.

Ich vertraue fest

Auf das ewige Selbst,

Das in mir wirket,

Das mich trägt.

 

Sich täglich einige Minuten mit diesen Worten und von ihnen ausgelösten inneren Erlebnissen zu durchdringen, hat schon vielen Menschen zu einem Wachsen ihrer Kraft verholfen. Anthroposophische Ärzte geben ihren Patienten oft auch individuelle Meditationsempfehlungen.

Auch Kunsterlebnisse und besonders eigenes künstlerisches Tun kann eine tiefe Kraftquelle darstellen, und immer wieder habe ich erlebt, dass Menschen, die sich jahrelang kraftlos fühlten, in einer individuell begleiteten Kunsttherapie wieder Anschluss an ihre Kraftquellen gefunden haben. Eines der Geheimnisse ist dabei, dass künstlerisches Handeln auf einen selbst zurückwirken kann. So kann es ein anhaltendes Kraft- und Leichteerlebnis mit sich bringen, wenn es gelingt eine lastende Tonform mit den eigenen Kräften so zu durchdringen, dass diese sich aufrichtet und lebendig und kraftvoll zu wirken beginnt. Ähnlich kann eine starr gewordene und von Grau durchwobene Seelenstimmung sich im Umgang mit Farbe beim Malen aufhellen und beweglicher werden. Und wie tief Musik auf unser inneres Erleben wirken kann, wird den meisten vertraut sein.

Aber tatsächlich sind auch die schlichte Körperbewegung und der Sport als Quelle von Kraft und Gesundheit nicht zu verachten. An ihnen zeigt sich auch ein Geheimnis der Entwicklung von Kraft: Kraft wächst, wenn wir sie einsetzen, sie geht zurück, wenn sie nicht in Anspruch genommen wird. Jeder Tag Bettruhe soll die Körperkraft um 3% schrumpfen lassen. Nach zwei Wochen hat man also mehr als ein Drittel seiner Kraft eingebüßt. Gerade der Gebrechlichkeit im Alter kann man auf keine Weise besser vorbeugen als durch beständige Eigenaktivität. Eine überwältigende Fülle von Studien hat gezeigt, dass mehr Bewegung nicht nur den Gelenken, dem Herz und den Blutgefäßen gut tut, sondern auch Krebs und sogar Demenz vorbeugen kann. Auch hier wird man merken, dass nur Ausdauer weiterbringt und die ersten Schritte wenig beeindruckend sein mögen, im Lauf der Zeit aber beachtliche Fähigkeiten und Kräfte reifen ­können. 

Wenn Bewegung sich mit Seelenerlebnissen verbindet, indem man beispielsweise beim kräftigen Spazierengehen oder gar Bergwandern mal blühende Obstbäume, mal Sommerwiesen, mal Herbstesleuchten erlebt, ist das um so besser, aber selbst in der scheinbaren Ödnis eines Sportstudios können Kräfte wachsen, und es mag besser sein, ein solches aufzusuchen, als wegen schlechten Wetters und Sturzgefahr bei vereisten Wegen ganz auf Bewegung zu verzichten. Gerade älteren Menschen kann auch ein Pflegen ihrer physischen Kräfte helfen, einen zu schnellen Rückzug aus dem Leib, der zu brüchigen Knochen oder Störungen des Gedächtnisses führt, entgegenzuwirken. Den physichen Schwerekräften entgegenzuwirken, kann Lebendigkeit erhalten.

Den »Himmelskräften« können wir uns aber auch unmittelbar zuwenden und dadurch eigene Kräfte wachsen lassen. Es ist eine alte Erfahrung (und moderne Studien bestätigen sie), dass ein regelmäßiges religiöses Leben Kräfte in uns entfalten und gesundend wirken kann. Und auch hier ist es wie bei allem inneren und äußeren Üben. Stetigkeit und Wiederholung nützen nicht ab, sondern vertiefen und erweitern, und häufig stellt man irgendwann überrascht fest, dass eine neue Erlebnistiefe und ein neues Kraftniveau entstanden sind.