Menschenfreund | Zum zweiten Todestag (11.7.2017) Peter Härtlings

AutorIn: Georg-Henrich Schnidder

Ich habe ihn nie getroffen, und als ich ihn vor Jahrzehnten kennenlernte, wusste ich nicht einmal, wer er war. Die Tageszeitung brachte neben den Fußballnachrichten und den lokalen Neuigkeiten immer noch ein Stückchen Kulturelles. Häppchenweise gab es täglich Romane und Erzählungen zu lesen, so auch eines Tages eine Erzählung über die »Dreifache Maria«. Drängende Vorbereitung für den Religionsunterricht oder der Frühgottesdienst ließen die Lektüre nur unregelmäßig zu, es war eine seltsame Geschichte, ich verlor den Zusammenhang, zurück blieb das Gefühl, nicht richtig verstanden zu haben. – Wer in Schwaben lebt, zwischen Nürtingen und Tübingen, kommt an Hölderlin nicht vorbei. Da kam die vielgelobte Biografie von Peter Härtling gerade recht und sie brachte einen ganz eigenen, neuen Ton. »Ich schreibe keine Biografie – ich schreibe vielleicht eine Annäherung«. So beginnt sein »Hölderlin«. Eine Darstellung, besser Vor-Stellung, die keine Beschreibung aus zeitlichem und innerem Abstand ist, sondern den Menschen »Fritz H.« auf seinem Lebensweg begleitet. Das Ich des Verfassers folgt dem Ich des Anderen auf den verschlungenen Lebenswegen; Verfasser und Leser nehmen gemeinsam teil, nehmen gemeinsam wahr. Da muss keiner vom »Klassiker­sockel« geholt werden, da wird das Genie in seiner fernen Größe und nahen Menschlichkeit erlebbar. – Schubert, E.T.A. Hoffmann, Schumann, Fanny Mendelssohn – ihnen und vielen anderen spürt Härtling nach, sehr persönlich, nie zu privat. Menschen sind es, die alle nicht »satt« in der Welt stehen, die Zweifel haben, zerbrochene Hoffnungen, Leben ohne happy end. Und gerade deswegen groß sind und dem Leser ans Herz wachsen, selbst wenn es sich bei »Hubert Windisch« oder »Felix Guttmann« um keine historischen Personen handelt. – Am deutlichsten wird das wohl bei »Schubert« und »Der Wanderer«: »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus«. Die »Winterreise«, Gedichte von Wilhelm Müller in der Vertonung durch Schubert spielen eine zentrale Rolle im Werk von Peter Härtling, auch dort, wo er nicht explizit darauf Bezug nimmt. Denn die Romantiker, über die er schreibt, haben das Lebensgefühl vieler heutigen Menschen vorweggenommen: wir haben keine richtige Heimat mehr, wir sind unterwegs, sind Wanderer. Sein eigenes Schicksal hat Härtling dafür besonders sensibel gemacht: Verlust von Heimat, Flucht im Jugendalter, Verlust von Vater und Mutter in jungen Jahren. Wo bin ich denn zu Hause? Wo ist Heimat? Die Lebensverhältnisse der westlich geprägten Kultur bieten heute nicht mehr die äußere und innere Sicherheit wie noch scheinbar vor 120 Jahren. Vieles ist brüchig geworden, wird in Frage gestellt. Daher neuerdings das Reden und Beschwören von Heimat, die Abgrenzung des »wir« von den »Fremden«, der Versuch, in die enge Geborgenheit des Gestern zurückzukehren. Dabei gilt heute wie vor 200 Jahren, was Franz Schubert am 18.7.1824 an seinen Bruder Ferdinand schreibt: »Man glaubt an dem Ort, wo man einst glücklicher war, hänge das Glück … doch bin ich jetzt mehr im Stande, Glück und Ruhe in mir zu finden als damals«.

Zugegeben, ich habe nicht alle Bücher von ihm gelesen, vor allem nicht alle Kinderbücher; doch neben dem Hölderlin ist mir sein Schubert am wichtigsten. Alles findet sich hier: die äußere Heimatlosigkeit (Schubert hat nie in einem eigenen Bett geschlafen!), das Wandern, das Leuchten der Trauer und die Schwermut der Freude; die Verletzlichkeit des Genies und die innere Nähe über die Zeit hinaus.

Im »Wanderer«, seinem sehr persönlichen Buch, schreibt Härtling über die »Winterreise«, Schuberts großen Gesang über den Abschied, die Einsamkeit, die Trennung, die Hoffnung. Er geht dem nach, wie der Komponist die Reihenfolge der Gedichte geändert hat, spürt die Intervalle zwischen ihnen auf, also den Bereich des Ungesagten, Ungespielten, wo das Eigentliche der Kunst sich offenbart. Und als Ergänzung dazu die CD, die er zusammen mit seinen Musikfreunden H. Höll, M. Shirai und T. Zimmermann von diesem Gipfel des Gesangs aufgenommen hat. Da bringen einmal Klavier und Gesang, dann seine eigene Stimme und zuletzt Bratsche mit Klavier dasselbe zu Gehör. Wort – Gesang – Klang: im Instrumentenklang lebt der Gesang, im Klavierpart klingt das Wort. 

Ist das nicht dasselbe, was für jeden Menschen auch gilt? In dem Anderen das Gemeinsame wahrzunehmen? In dem Fremden den Nächsten? In dem Gescheiterten den Gestalter seines Lebens? »Fremd bin ich eingezogen« – mit den Worten Wilhelm Müllers beginnt Härtling den »Wanderer«. Er schließt mit den Worten Goethes aus dem »Faust«, wo ganz am Ende der gealterte, der gescheiterte Wanderer Faust aufgenommen wird von der alten Baucis mit den Worten: »Lieber Kömmling! Leise! Leise!« Härtling ergänzt: sie »bringt mit diesem Goethischen Wortfund den unerwarteten Gast als Kind zur Welt, empfängt ihn als Sohn« und schließt: »Er kam zur rechten Zeit, er kam heim.«

Wer so schreibt, weiß, dass des Menschen Heimat nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft ist.