Christi Milde

AutorIn: Tom Ravetz

In einem berühmten Hymnus von Charles Wesley, dem Begründer des Methodismus, wird Jesus als »gentle Jesus meek and mild« (gütiger Jesus sanftmütig und mild) beschrieben. Das bringt das Christus-Bild schön zum Ausdruck, das der Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts entspricht, die vor allem auf das Gefühl und die Empathie des »einfachen Mannes aus Nazareth« geschaut hat. Friedrich Nietzsche hatte wenig Sympathie für dieses eher pathetische Jesusbild. Für ihn stellte es eine Huldigung der menschlichen Schwachheit dar. Das Christentum war die Religion der Sklaven, der Opfer. Dagegen verherrlichte er das menschliche Können und die Macht. Auch in der christlichen Theologie gab es eine Gegenreaktion auf jenes Bild, das die Milde Christi so stark betonte: Gustaf Aulén (1879 – 1977), Bischof von Strängnäs in Schweden, wollte hinter jene Vorstellung zurück, die seit dem hohen Mittelalter maßgeblich war – das heißt: hinter die Lehre von der stellvertretenden Versöhnung, nach der Christus in seinem Kreuzestod die Sühne der Menschheit Gott gegenüber erbringt, die die Menschen aus eigenen Kräften nicht hätten leisten können. Aulén wollte vielmehr zu jener Vorstellung des Christus Victor zurück, die in seinen Augen in der Urkirche maßgeblich war: Der Christus bewirkt das Heil dadurch, dass er den Teufel im Kampf um Leben und Tod besiegt. 

Was ist richtig? Sollen wir auf den Christus als auf einen starken Helden schauen, der durch seine Kraft die Menschheit errettet? Oder ist er ein Vorbild der Milde, des Erduldens? Adam Kahane hat in seinem Buch »Power and Love«1 auf eine Spannung hingewiesen, die in der Welt und in jeder Menschenseele zu finden ist. Er greift dabei auf ein grundlegendes Buch von Paul Tillich zurück, der darin die Begriffe Liebe und Macht etwas ungewöhnlich bestimmt.2 Die Liebe ist nach Tillich der Drang, das Getrennte wieder zu verbinden; die Macht dagegen ist der Drang nach Selbstverwirklichung. Macht ohne Liebe wird schnell tyrannisch, weil sie die Bedürfnisse der anderen außer Acht lässt; Liebe ohne Macht steht in Gefahr, sentimental und blutarm zu werden, wenn sie berechtigte Unterschiede, etwa aufeinanderprallende Wünsche, leugnet. Adam schreibt aus seiner Erfahrung als Berater von den Folgen dieser Einseitigkeiten. Er meint, dass wir alle auf der Hut sind, was die einseitige Macht betrifft. Weniger sind wir uns allerdings dessen bewusst, wie gefährlich die Liebe ohne Macht ist. Vor allem in idealistischen Organisationen gibt es oft die Neigung, Konflikte zu verdrängen. Wenn alle meinen, dass uns die höchsten Ideale vereinen, ist es schwierig, die Seiten in uns anzuerkennen, die nach Selbstverwirklichung streben. Wenn ein Konflikt entsteht, gibt es eine starke Tendenz, diesen zu verleugnen. Wenn man etwa als Elternteil oder in der Leitung einer Schule oder Firma eine Führungsrolle hat, fühlt man diesen Drang sehr stark. Man möchte vor allen Dingen eine friedliche Zusammenarbeit und ein harmonisches Zusammenleben sehen. Kahane hat dafür den Begriff »Friedenshetzer« geprägt, analog zum Kriegshetzer. Martin Luther King Junior, der auch von Tillichs Ideen inspiriert war, prägte den Satz: »Macht ohne Liebe ist rücksichtslos und missbräuchlich; Liebe ohne Macht ist sentimental und saftlos.«

Wenn wir diese etwas speziellen Definitionen von »Liebe« und »Macht« im Sinne Tillichs im Auge behalten, zeigt uns ein Blick in die Evangelien, dass in Jesus Christus beide Seiten vertreten sind. Wir denken an die Machtseite vielleicht vor allem in den Dämonenaustreibungen, die in der Urkirche als Zeichen des Sieges über die Widersacher gedeutet wurden. Auch in den Auseinandersetzungen mit der religiösen Obrigkeit etwa in der Karwoche merken wir, dass der Christus den Konflikt nicht meidet. Wenn die Gleichnisse des Kampfes symbolisch zu deuten sind, fällt die Gewaltsamkeit etwa der königlichen Hochzeit nach Matthäus stark ins Auge. Auch auf subtilerer Ebene merken wir, dass Jesus nicht leicht nachgibt: Wenn die Frau, die nach Heilung sucht, ihn anfasst, ohne ihn direkt zu fragen, stellt er sie zur Rede, damit der Vorgang bewusst wird (Lk 8,43ff). Seine Wohltätigkeit bedeutet nicht, dass er keine Grenzen hat. Aber wenn wir auf seine erlösende Tat schauen, merken wir, dass es zu einseitig wäre, wenn wir ihn nur zum siegenden Helden machen wollten. Sind nicht die letzten Stunden seines Erdenlebens Vorbilder dafür, wie er durch eine absolute Hingabe in ein Nichts eintritt, das er nicht beherrschen kann. 

Die Polarität, auf die Tillich aufmerksam macht, ist keine willkürliche. Sie gibt auf der Ebene der Seele eine Grundspannung menschlicher Existenz wieder: die Wechselwirkung von Geben und Empfangen, die in jedem Atemzug, jedem Pulsschlag zu spüren ist. Zwischen den Polen leben wir in einer Mitte, die es gilt, künstlerisch als ein lebendiges Wechselspiel zu gestalten. Adam Kahane bringt in diesem Zusammenhang das Bild des Tanzes als die künstlerische Leistung, die zwischen den Extremen lebt. Schon wenn das Kind lernt, aufrecht zu stehen und zu gehen, bewegt es sich zwischen links und rechts durch die Mitte. Auch im Stillstehen schaukeln wir fortdauernd ein wenig. Wenn wir wirklich stocksteif stehen würden, würden wir gleich umfallen. Doch wenn wir die Bewegung meistern, können wir nicht nur stehen und gehen, sondern im Tanz mit den Kräften kreativ umgehen. So sollten wir es auch, meint Adam, mit den Extremen von Liebe und Macht versuchen. Dann werden wir mit der Zeit Meister der Spannung – wir werden tanzen. 

Es gibt Beispiele dafür, wie sich die Einseitigkeiten im Sozialen ausleben. Wir kennen alle Menschen in Führungspositionen, die zu wenig auf das Innenleben ihrer Mitarbeiter oder Untergebenen achten. Das spiegelt sich in der Literatur, die in den letzten Jahrzehnten über Führungsfragen entstanden ist. Hier liegt inzwischen ein Schwergewicht auf der Empathie und der emotionalen Intelligenz, weil man weiß, dass unsere Mitmenschen dann ihr Bestes geben, wenn sie sich ernstgenommen fühlen und sich einbringen können. Das heißt, dass wir uns nicht einfach durchsetzen. Aber wir kennen auch den Gegenpol: Menschen, die übervorsichtig sind und dadurch, dass sie die Bedürfnisse anderer stets ausführlich in Betracht ziehen, allen ein Ärgernis werden. Oder es wird im Namen der Selbstlosigkeit eine Art »passive Aggression« ausgeübt. Wenn nämlich eine scheinbar selbstlose Tat mit der versteckten Erwartung ausgeführt wird, dass sie irgendwie belohnt werden wird, dann fühlen wir uns sogar weniger frei, als wenn uns jemand einfach mit seinem Wunsch als Forderung direkt konfrontiert. 

Das Erkennen der Einseitigkeiten unserer Mitmenschen wird umso fruchtbarer, je klarer wir dieselben Tendenzen in uns selbst finden. Auf unsere Aufgaben im Arbeits- oder Familienleben mit der Frage zurückzublicken, wann verfiel ich in die einseitige Macht-Gebärde und wann verfiel ich in die einseitige Liebe im Sinne von Tillich und Kahane, bringt interessante Einsichten. Oft sind Augenblicke, in denen wir Angst haben, verletzt zu werden, solche, in denen wir zur Macht greifen, etwa indem wir im Durchsetzen unserer Wünsche aggressiv werden. Auf der anderen Seite sind Situationen, in denen ein Konflikt akut wird, schwer zu bewältigen. Der Impuls, alles zu besänftigen, ist sehr stark!

Wenn wir die Worte in der Michaeli-Epistel hören, die auf Christi Milde hinweisen, werden wir diese vermutlich nicht als Bestätigung jenes alten, einseitigen Bildes des »Mannes für andere« verstehen. Vielmehr schauen wir auf seine Macht, die immer in der gesunden Spannung zur Liebe gehalten wird. Wenn wir dieses Ringen in uns anerkennen, wird uns das Leben Jesu in den Evangelien zum Vorbild in dem Sinne, dass wir seine Milde als Ausdruck der Harmonie erleben, mit der er zwischen den Extremen lebt. Ein Hymnus aus dem angelsächsischen Raum gibt den Tanz Christi schön wieder: 

 

Dance, then, wherever you may be,

I am the Lord of the dance, said he,

And I'll lead you all, wherever you may be,

And I'll lead you all in the dance, said he. Sydney Carter, 1963

 

Tanzet alle, wo immer ihr auch seid,

Ich bin der Herr des Tanzes, sagte er,

Ich leite euch, wo immer ihr auch seid,

Ich leite euch alle im Tanz, sagte er.  

 

 

Power and Love: A Theory and Practice of Social Change, Oakland, CA 2010

 

Liebe – Macht – Gerechtigkeit,
Berlin 1991