Zeit – Wende

AutorIn: Mechtild Oltmann-Wendenburg

Es ist auch heute noch – 30 Jahre danach – nicht einfach, zu beschreiben, was am 9. November 1989 geschah, als sich in Deutschland die Mauer wie von selbst öffnete. Kaum jemand hatte das erwartet, niemand gab eine offizielle Erklärung, viele haben es zuerst nicht geglaubt. Es war ein großes, das Leben und die Existenz vieler Menschen vollkommen verwandelndes Ereignis.

In kürzester Zeit breitete sich in Berlin die Stimmung aus, eine Art Wunder zu erleben, etwas Unwirkliches: Alles bis zu diesem Tag Gewohnte hörte auf. Räume öffneten sich, von denen niemand vorher etwas gewusst hatte. Berechenbares verschwand, und – selbst wenn es heute kaum noch jemand glaubt – es öffneten sich auch die Herzen der Menschen. Wie wenn ein Hauch von Ewigkeit aus einer gänzlich anderen Welt plötzlich hereinleuchtete in die Zeit. Das hätte sich niemand vorher so vorstellen können. So dachte ich mir den Himmel auf Erden und wusste doch gleich: das wird nicht lange dauern.

Kleine Kinder in einem ad hoc stattfindenden Benefizkonzert in der Philharmonie, ganz still; Trabis, die ungestraft überall parkten; verschenktes Geld an Schaltern, vor denen geduldig und friedlich lange Menschenschlangen warteten. Rostropowitsch, mit Cello extra angereist, bei regnerischem Wetter, direkt an der Mauer spielend: Bach. – Dann Beethovens 9. Symphonie: Freude, Götterfunken, Staunen, Jubel.

 

Einen solchen »Einbruch« einer ganz anderen Wirklichkeit kann man sonst am ehesten noch erwarten und miterleben, wenn ein Mensch stirbt. Es ist der Hauch aus einer anderen Welt ...

Man wird dabei ein wenig aus dem »Diesseits« herausgezogen und merkt das daran, dass die sinnliche Wahrnehmung sich eigenartig verwandelt. Geräusche werden langsam »undeutlicher«, zugleich aber auch tiefer, ergreifender. Bewegungen verwandeln sich in einen eigenmächtigen Zustand. Aus Dasein wird Sein, Atemlosigkeit wird in Staunen aufgelöst.

Von der anderen Seite, aus dem sogenannten »Jenseits«, kommt die unbeschreibbare Dimension einer so sonst nie vorkommenden Stille, tief innerlich. Der Sterbende erfährt sie als »Ruhe des Seelenseins«, die dadurch zustande kommt, dass sich seine Seele aus der rasenden Geschwindigkeit, in der sich die Erde in jedem Augenblick befindet, herauskämpft. Allein schon das Erlebnis dieser Stille ist ganz erfüllt von »zeitlosem Sein«. Bach hat eine Kantate komponiert, die den Titel trägt: »Oh Ewigkeit, du Donnerwort«. Dort ist die Stille zum lautesten Geräusch der Natur, dem Donner, geworden als der geistigen Seite der Stille in ihrer ganzen Kraft.

Früher hieß es manchmal, wenn mitten im Sagbaren eines Gespräches zwischen zwei oder mehreren Menschen es auf einmal still wurde und niemand mehr redete: »Es fliegt ein Engel durch den Raum«, als gäbe es ein uraltes Wissen darüber, dass die Anwesenheitsmöglichkeit der Engel die Stille sei.

 

Zeit und Ewigkeit sind zwei kosmische Kraftbereiche, in denen – wie im Atem – zweierlei Gnaden sind. Das vollkommene Losgelassen-Sein von allem, was die Sinne im Irdischen erfahren können, in ein Nichts einerseits und andererseits das aus unbekannten Reichen in das eigene Sein hereintastende Potential eines daraus entstehenden Neuen, ein Anfängliches im Bereich der Himmel. Dieses ist zugleich der Daseinsbereich geistiger Wesen, die dann ganz allmählich »auftreten« und spürbar werden, durch den Raum fliegen ...

 

Damals, als die Mauer sich öffnete, die für viele auch eine Grenze zwischen Diesseits und Jenseits bedeutet hatte, nahm man in den allerersten Tagen ganz stark die Möglichkeit eines neuen Anfanges wahr, und nicht nur das, es haben tatsächlich einige Menschen auch »Engel« bemerkt. Manche empfanden sogar, dass der zum Zeitgeist aufgestiegene Erzengel Michael in einzelnen Augenblicken anwesend gewesen sei.

Heute ist allzu deutlich, dass dieses »Neue«, was vielleicht auf Menschentaten und Gesinnungen gewartet hat, nicht wirklich gelungen ist. Doch beginnt es jetzt, nach 30 Jahren, an verschiedenen Stellen wieder ins Gespräch zu kommen und bekommt dadurch hoffentlich eine neue Chance.

 

Über alldem, dem Zeitlichen und dem Ewigen, dem Leben und dem Sterben, an dessen Wirklichkeiten heute Menschen mitarbeiten und zuweilen sogar mitgestalten dürfen, gibt es noch ein ganz anderes Reich, das Reich des Friedens. Es ist in aller Munde und in vieler Menschen Sehnsucht, aber es ist mit einer ganz anderen Dynamik als der des Herstellbaren oder Machbaren verbunden. Es lebt an der Stelle des Übergangs vom »guten Willen« zum Geschehen-lassen-Können, zur Hingabe jenseits von Übung und Anstrengung. Hier erwacht die Bereitschaft zur reinen Hinnahme. Das könnte man auch nennen: »Dein Wille geschehe«.

Der Friede ist die eigentliche Ewigkeitskraft. Er kann deshalb nur bei uns sein, wenn und weil »ich ihn euch gebe«.

In der Zeitlosigkeit wird alles, was gewesen ist, beendet. Im Reich der Ewigkeit beginnt, wie in einer Dämmerung, schon sanft die Zukunft. Das ist nur möglich, weil da alles »in Frieden« kommt. Dieser Friede kommt aus dem Bereich, aus dem uns auch der »Himmel auf Erden« als ein neuer Weltenanfang werden kann.