Ich und die Widerständigkeit der Welt

AutorIn: Renate Hölzer-Hasselberg

Die Einheit von Ich und Welt
Wir haben das alle erlebt: ein kleines Kind spielt, erprobt sich, freut sich, erobert die Welt, läuft voller Vertrauen auf die Eltern zu, schmeckt, ertastet die Umgebung und begrüßt auch fremde Menschen, die ihm zulächeln. Unbefangen, vertrauensvoll, hingegeben an die Welt. Wir sind entzückt und begeistert. Warum? Wir sehen ein Kind, das diese Welt will. Es will leben, lieben, lernen und an den Widerständen, die ihm aus der Welt entgegenkommen, mitgestaltend reifen.
Das Kind verfolgt das Ziel jedes Menschen, mit seinem vorgeburtlichen Entschluss im Kontakt zu sein, zu realisieren, was es sich hier für dieses Leben, unter diesen Umständen, in dieser Welt vorgenommen hat. Kann es die vorgeburtlichen Entschlüsse erkennen und realisieren? Dann kann es sich in der Welt beheimaten und die Welt wird mit sinnstiftenden Gestaltungsangeboten, Erlebnisreichtum und erfüllenden zwischenmenschlichen Beziehungen antworten.
Die Welt – für das Kind wird sie repräsentiert durch die Erwachsenen: vor allem Eltern, Erzieher und Lehrer. Diese Erwachsenen müssen vorleben, dass auch sie diese Welt mit all ihren Widerständigkeiten wollen, lieben und gestalten. Dazu ist es notwendig, dass sie im Kontakt mit sich selbst sind und ihre eigenen Ängste, Hoffnungen und Bedürfnisse gegenüber der Welt wahrnehmen und verstehen. Dann wird das Kind dazu ermutigt, diese Welt zu wollen, und erlebt: die Welt will auch mich.

Die Bedrohung des Ichs durch die Welt


Aus meiner psychotherapeutischen Praxis: Ein achtzehnjähriger Abiturient kommt mit folgendem Problem: Er wisse nicht, was er studieren soll, er wisse überhaupt nicht, was er machen will. Die Schulzeit habe er ziemlich desinteressiert absolviert, und die Fülle der Angebote dessen, was er tun könne, beängstige und verwirre ihn mehr, als dass sie ihn motiviere. Er habe weder Vertrauen zu sich noch zu anderen Menschen noch zu der Welt an sich. Er habe vor allem Angst vor den Erwartungen und Herausforderungen, die die Welt an ihn stelle. Auf meine Frage, was ihm fehle, antwortet er: Mir fehlen Mut und Motivation.
Er berichtet: Er habe fürsorgliche Eltern und ein brauchbares Verhältnis zu seinen älteren Geschwistern. Sein Vater sei aus beruflichen Gründen häufig abwesend. Seine Mutter sei zwar überlastet, aber bemühe sich, den Kindern gerecht zu werden. Auf meine Nachfrage, wie sein emotionaler Kontakt zu den Eltern sei, erinnert er sich nicht daran, je nach seinen Gefühlen gefragt worden zu sein. Letztendlich seien die Eltern davon ausgegangen, dass er den Erwartungen der Schule durch gute Leistungen gerecht werde und sich möglichst problemlos in der Welt bewege.
Eines vorweg: Die Lebensschwierigkeiten des Achtzehnjährigen lassen sich nicht einfach kausal aus seiner Kindheit und Sozialisation erklären. Es ist vielmehr seine Individualität, hier als ewige Entelechie gemeint, die auf Sozialisation und Kindheit trifft und jetzt diesen beängstigenden Weltbezug mitbestimmt. Dennoch: Väter sind vor allem für die Jungen immer die Brücke zur Welt. Und wenn Söhne ihre Väter wenig aktiv erleben, wenn Väter kaum Gefühle zulassen und nicht Mut und Initiative vorleben, dann sind das keine guten Voraussetzungen für junge Menschen, sich selbst mutvoll, initiativ und begeistert in die Welt hinauszuwagen.
Es gibt nicht wenige junge Menschen, die die Welt als Bedrohung erleben, sich fremd und überfordert fühlen. Die Welt mit ihren Widerständigkeiten ist dann keine begeisternde Herausforderung, in der man mit Leidenschaft mitgestalten und seine Fähigkeiten erproben will, sondern eher ein Ort der Flucht und damit der Vereinsamung, schlimmstenfalls der Depression.
Hier zeigt sich das zugrundeliegende Problem: Ich habe Angst vor der Welt, darum entziehe ich mich ihr. Und deshalb hat dann die Welt auch gar nicht mehr die Chance, zu einer motivierenden Herausforderung zu werden.

 

Die Abwendung des Ichs von der Welt
Ein weiterer Fall aus meiner psychotherapeutischen Praxis: Eine Frau, Mitte 40, verheiratet, 3 Kinder, tätig in einem sozialen Beruf, beschreibt Folgendes: Seit Monaten bemerke sie eine große Müdigkeit und Lustlosigkeit. Ihre Ehe sei stabil, und die Kinder seien auf gutem Wege. Ihre soziale Tätigkeit strenge sie aber sehr an. Im Laufe unserer Arbeit zeigt sich, dass die Klientin grundsätzlich den Anspruch an sich hat, allem und jedem – ununterbrochen und immer – gerecht zu werden.
Aus Kindheit und Jugend berichtet sie, wie wenig ein deutliches Nein und ihre Abgrenzung von den Eltern akzeptiert wurde. Sie hat also von klein auf erlebt, dass sie geliebt, akzeptiert, gewollt wird, wenn sie vor allem das tut, was andere von ihr erwarten. Für den einzelnen Menschen sind diese familiären Beziehungsmuster eine sehr belastende Ausgangsposition, um ein selbstbestimmtes und souveränes Leben zu entwickeln. Viele Menschen leiden unter solchen familiären Konstellationen. Der erste Schritt der Heilung besteht immer in der Bewusstwerdung solcher Glaubenssätze.
In der biografischen Arbeit wurde der Klientin bewusst, dass sie nicht gelernt hat, aus freier Initiative und unter Berücksichtigung eigener seelischer Bedürfnisse zu handeln. Was sie will, ist das, was sie zu wollen hat. Authentische Willensentschlüsse sind ihr als Erfahrung weitgehend unbekannt. Nicht sie ist die Regisseurin ihres eigenen Drehbuchs, sie überlässt anderen die Regie. Diese fundamentale Ohnmachtserfahrung, nicht im Kontakt mit den individuellen Lebensintentionen zu sein, führt zu einer tiefen Erschöpfung, verbunden mit dem seelischen Erleben: Ich weiß nicht, was es heißt, mich zu wollen. Darum will ich die Welt nicht. Ich bin mir gleichgültig, darum ist auch die Welt mir gleichgültig. Die Welt antwortet auf diesen biografischen Rückzug mit derselben Geste: Sie zieht sich desinteressiert zurück.

 

Entwicklungsverweigerung des Ichs und die Reaktion der Welt
Ein weiteres Beispiel: Eine Waldorfschule hat einen weltanschaulichen Konflikt. Ein Teil des Kollegiums befürchtet, dass die Allgemeine Menschenkunde Rudolf Steiners als Grundlage der Waldorfpädagogik zu wenig berücksichtigt wird und es zu viel Subjektivität, Willkür und Unreflektiertheit im pädagogischen Handeln gebe. Diese Sorge kann durchaus berechtigt sein. Der andere Teil des Kollegiums fühlt sich aber durch die Art, wie sie geäußert wird, entmündigt, moralisiert und kontrolliert und kritisiert im Gegenzug die Verabsolutierung anthroposophischer Gesichtspunkte. Das ist natürlich ein Problem, aber das eigentliche Problem ist der Umgang mit diesem Problem.
Beide Parteien haben eine ähnlich rigide Haltung, mit der sie die allein zutreffende Sicht auf den Sachverhalt beanspruchen. Sie lassen sich nicht darauf ein, dass auch die Perspektive des anderen verständlich und berechtigt sein könnte. Was dokumentiert so ein Verhalten? In den Innenwelten der Konfliktpartner findet sich ein unverrückbarer Standpunkt mit absolutem Wahrheitsanspruch. Diese ungeklärten Innenwelten korrespondieren mit einem allgemeinen Mangel an Entwicklungswillen. Das zeigt in aller Deutlichkeit, dass kein individueller Entwicklungsprozess der Beteiligten mehr stattfindet. Eine Form des Sozialautismus entsteht, unter der alle leiden. Was der Einzelne bei sich nicht sehen und bearbeiten will, muss die Gemeinschaft stellvertretend für ihn erleiden und weiterentwickeln. Fragen nach neuen Perspektiven und Sichtweisen, die aus der Zukunft kommen, können so nicht mehr entstehen. Genau das müsste aber stattfinden. Die Tragik: Auf diese Weise wird Vergangenheit zementiert, statt Gegenwart und Zukunft gestaltet.  
Was heißt das für die Außenwelt? Die Außenwelt wird hier repräsentiert durch die Kinder, die in diesen Konfliktlandschaften unterrichtet werden. Dazu gehören aber auch die Eltern, die diese Stimmungen mindestens atmosphärisch zu spüren bekommen. Oft genug kommt es zu Spaltungen in den Kollegien, zu Fraktionsbildungen zwischen Eltern und Kollegen. Auch der Ruf der Schule kann langfristig beschädigt werden.
Das zugrundeliegende Problem hier ist: Unreflektierte und stagnierende Innenwelten der Einzelnen in der Gemeinschaft beantwortet die Welt mit Misstrauen, Disharmonie und Auflösung sozialer Zusammenhänge.
Werden diese Konflikte aber geklärt, was oft genug geschieht, dann antwortet die Außenwelt ganz anders: Sie ist dankbar, dass es eine lebhafte Auseinandersetzung über schwierige Themen gibt, dass Konflikte keine Angst machenden Szenarien auf den Plan rufen, sondern im Gegenteil beherzt und mutig angegangen und aufgelöst werden. Die Außenwelt erlebt dann über die Repräsentanten: Man kann vertrauen, die Menschen verhalten sich erwachsen, Konflikte sind lösbar, man muss ihnen nicht ausweichen, und die Beteiligten haben am Ende mehr innere Freiheit, mehr Bewusstheit, mehr Vertrauen, mehr Initiativkraft, mehr seelische Gesundheit und insgesamt mehr Stabilität.
Für eine Klärung der Konflikte gibt es zwei absolut notwendige Voraussetzungen: Zum einen muss der Einzelne bereit und willens sein zur Selbsterkenntnis, Selbsterziehung und Selbstverwandlung. Zum anderen braucht die Gemeinschaft selbst konfliktfeste, transparente und damit gesundmachende Organisationsstrukturen.


Selbsterkenntnis, Selbsterziehung, Selbstverwandlung
Wir erinnern uns:
Das Kind unter kindgemäßen Bedingungen erlebt: Ich will die Welt, und die Welt will mich.
Der junge Mensch mit schwierigen Innen- und Außenbedingungen erlebt: Ich will die Welt nicht, und die Welt will mich nicht.
Der erwachsene Mensch erlebt bei übermäßiger Anpassung und Selbstverleugnung: Die Welt ist mir gleichgültig und sie zieht sich von mir zurück.
Die Einzelnen in der Gemeinschaft, die sich nicht durch Selbsterkenntnis, Selbsterziehung und Selbstverwandlung weiterentwickeln und nicht für eine Organisationsform sorgen, die Entwicklungsräume ermöglicht, erleben: Ich will die Welt so, wie ich sie mir vorstelle. Ich will bleiben wie ich bin, die Welt hat sich nach meinen Vorstellungen zu richten und sich mit meiner unreflektierten Innenwelt zu arrangieren. Die Welt antwortet mit Ablehnung, Misstrauen, Widerstand.
Unsere Innenwelten und die Außenwelt gehören untrennbar zusammen. Wenn wir unsere Innenwelten nicht energisch schulen, dann werden wir auch die uns antwortende Außenwelt immer als widerständig erleben. Und zwar in konfliktreichen menschlichen Beziehungen, aber auch in unseren Arbeitszusammenhängen. Die Einwilligung des Einzelnen in eine persönliche Entwicklungsdynamik ist die Voraussetzung dafür, dass wir die Welt uns zugeneigt erleben und ihre Widerständigkeiten als notwendige Herausforderungen ergreifen und sinnstiftend für uns und die Welt gestalten. Gleich wie das Kind dürfen wir dann das Erlebnis haben: Die Welt will mich, und ich will die Welt.
Es gibt sicher eine objektive Erlebnisschicht in der Welt, die wir alle als widerständig erfahren. Schon die Kinder erleben laut Rudolf Steiner vorgeburtlich diese Widerständigkeiten: »Denn sie wissen, wie ihnen gewissermaßen das ›geistige Gefieder‹ zerzaust wird durch dasjenige, was die in materialistische Gesinnung und materialistische Weltanschauung und auch in materialistisches Tun getauchte Menschheit auf der Erde heute durchmacht.«Wolfgang von Saßmannshausen beschreibt es so: »Es kommt jedes Kind heute mit der Grunderfahrung auf die Welt, dass seine Inkarnation ein seelisch-geistiges Existenzrisiko beinhaltet.«
Die Menschen, die heute geboren werden, erleben die Widerständigkeiten, die aus der Bewusstseinsseelenkultur für uns alle spürbar sind, in der radikalen Individualisierung und der damit einhergehenden Antisozialität und Egoität des Einzelnen3 und seiner Vereinsamung. Die Vorbereitung der sechsten Kulturepoche besteht nach Steiner unter anderem darin, dass wir aus Einsicht und freiem Willen das Prinzip des Brüderlichen üben und mit dem Anderen trotz aller Widerständigkeiten Gemeinschaft wollen.
Das ist die Zielsetzung. Die Voraussetzung dafür ist, dass der einzelne Mensch mit seiner inneren Entwicklung Ernst macht. Nur das ist der Weg für eine Befriedung und Humanisierung der Lebensbedingungen von Mensch, Erde und Kosmos.