Der verborgene Gott – Wo ist er? Oder sie? Oder es? Gott? Die Gottheit? Das Göttliche?

AutorIn: Michael Bruhn

Das unmittelbare Erleben des Göttlichen ist uns heute weitgehend abhanden gekommen. Als Bewusstseinsprozess gehört das zur Entwicklung der Menschheit dazu. Es geschah im Laufe der Geschichte wie von alleine, indem wir uns innerlich und praktisch von den Vorgängen der äußeren Natur entfernt, ja entfremdet, anders betrachtet: von der Natur emanzipiert haben. Wenn wir weiterhin jeden Naturvorgang voller Ehrfurcht als geistig wesenhaft erleben würden, wären wir nicht zu von außen Beobachtenden geworden und es gäbe keine Naturwissenschaft und keine Technologie. Auch die Freiheiten, die mit dieser Wissenschaft und Technologie einhergehen, stünden uns somit nicht zur Verfügung. Allerdings wären uns dann auch die zerstörerischen Seiten von Technologie und Wissenschaft erspart geblieben.

 

Es gibt natürlich dennoch weiterhin eine Sehnsucht danach, das Göttliche ganz unmittelbar zu erleben. Es gibt sicher noch Menschen auf unserer Erde, die sich eine naturverbundene Religion erhalten haben oder die in ihrer religiösen Praxis geistige Wirkungen erleben und mit einer Vielzahl von Götternamen beschreiben können. Auch das Erleben einer geistigen Schicksalsführung oder persönlichen Gottesbeziehung dürfte noch immer weit verbreitet sein. Für eine Vielzahl von Menschen bleibt aber eher nur eine gefühlsmäßig empfundene Sehnsucht danach vorhanden. Manche beten verzweifelt und erleben nicht unmittelbar etwas, was da antworten würde. Andere erinnern zwar überwältigende Momente göttlicher Anwesenheit aus der Kindheit, können sie aber nicht wieder herbeirufen. Auch die Ehrfurcht im Staunen über die Wunderwerke der Natur lässt sich nicht jederzeit wieder neu erzeugen, auch wenn wir sie kennen und erlebt haben mögen. Oder jemand hat in einem religiösen Kultus oder in einer Gemeinschaft ein überwältigendes Erlebnis göttlicher Anwesenheit gespürt, nur lässt sich auch dieses nicht einfach festhalten, und es gibt keine Garantie, dass es wieder in der gleichen Form auftreten wird.

 

Indem wir uns vom unmittelbaren Naturerleben emanzipiert haben, sind wir ihm auch nicht mehr voll Angst und Schrecken ausgeliefert. Wir bringen in unserer gegenwärtigen Situation unser entwickeltes Denken mit, wenn wir der Natur begegnen. Wir haben die Möglichkeit, völlig zu ignorieren, dass es etwas über das äußerlich Messbare Hinausgehendes überhaupt geben könnte. Wir besitzen die Freiheit, ganz auf eine Begegnung mit allem, was nicht sichtbar und messbar ist, zu verzichten, gar nichts Göttliches mehr zu sehen. Oder wir suchen Göttliches in einer alten Weise und finden einfach nichts mehr. Hinzu kommen die Schrecken und Kata­strophen der Natur und all dessen, was Menschen einander antun können, das kann zu Verzweiflung oder Zynismus führen. Die philosophische Behauptung »Gott ist tot« wird dann verständlich. Es ist ja auch wahr, dass ein altes, naives Gottesbild von dem, der »alles so herrlich regieret« vor den Gräueln des vergangenen Jahrhunderts nicht unbeschadet bestehen kann. Es muss tatsächlich sterben und verwandelt werden, es muss auch im eigentlichen Sinne immer noch verchristlicht werden, denn im traditionellen Christentum ist ein wirkliches Verständnis der Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Geist immer noch eine Zukunftsaufgabe. Die Verborgenheit des Vatergottes in der Welt, die Verborgenheit des Göttlichen in der Opfertat des Sohnesgottes auf Golgatha, Erleuchtung durch den Geistgott im Miterleben der Auferstehung – all das sind Elemente, die wir uns bemühen können zu verstehen, um damit dieser Zukunftsaufgabe näher zu kommen.

 

Der erwähnte »Sterbeprozess« des Gotteserlebens ist aber schon seit Jahrtausenden langsam im Gange. Religionen und Einweihungskulte stemmen sich dagegen und machen Göttliches erlebbar, jeweils eine Zeit lang in angemessener Weise, bis sie von der Bewusstseinsentwicklung überholt werden und sich ändern müssen. Immer lassen sich dabei sowohl Verhärtungstendenzen, die sich gegen Veränderung wehren, als auch Auflösungstendenzen, die ekstatisch in die Irre führen, beobachten.

 

Dabei drängt sich das Bild auf, dass alles wie auf ein Nadelöhr zuläuft: auf den Durchgang des alten Gotteserlebens und Gottesbegriffes durch eine Erfahrung des Nichts. Äußerlich geschichtlich können wir dieses Nadelöhr einmal in der Zeitenwende verankern und als die Tat des Christus auf Golgatha beschreiben, als das Mysterium von Golgatha. Diese Tat und was sich an ihr erleben lässt, ist aber nicht mit Logik oder philosophischen Begriffen zu erfassen. Zu dem langsamen Verlieren der unmittelbaren Geist­erfahrung gehört auch dazu, dass in der Philosophie die verschiedensten Versuche gemacht wurden, die Existenz eines Gottes zu beweisen. Die Reformatoren, allen voran Martin Luther, hielten solche Beweisversuche durch Logik und Philosophie für unsinnig. Man kann zwar z.B. von den göttlichen Attributen ausgehen – Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart usw. – und zu beweisen versuchen, dass ein Wesen mit diesen Attributen notwendig existieren muss, aber es ist schlicht unmöglich von einem philosophischen Gottesbeweis aus mit logischen Kategorien zu einem göttlichen Wesen zu kommen, das am Kreuz leidet, stirbt und aufersteht. So prägte Luther die Worte vom deus absconditus, dem verborgenen Gott, der in der Welt nicht sichtbar ist und sich im Leiden Christi verbirgt, und vom deus revelatus, dem geoffenbarten Gott, der sich in der Auferstehung Christi wieder offenbart. Das Erleben dieses Wieder-lebendig-Werdens im eigenen Inneren nennt er dann den »Glauben«. Glaube ist deshalb notwendig, weil das Göttliche eben in der Welt verborgen ist und uns nicht unmittelbar sinnlich gegenübertritt. Für Luther wird Gott uns Menschen gegenüber einzig und allein durch die Christustat erlebbar, niemals direkt und unmittelbar durch unsere menschlichen Sinne oder unser Denken. 

 

In diesem Sinne lässt sich sagen: die Verborgenheit Gottes im Äußeren wird geradezu zur Voraussetzung, um seine Offenbarung im Inneren erleben zu können. Ohne diese Verwandlung gibt es heute auch kein vollständiges Menschsein mehr, jedenfalls dann, wenn wir davon ausgehen, dass auch zum Menschsein eine geistige Komponente dazugehört, das Rätsel von Ursprung und Ziel unserer Individualität, die uns im Alltag ebenfalls verborgen bleibt. Wir könnten dann, analog zu den reformatorischen Gedanken von Verborgenheit und Offenbarung, auch die Lösung dieses Rätsels im Durchgang durch die Nadelöhre des Nichts und der Verborgenheit unseres Lebenssinnes suchen. Solche Durchgänge und Verwandlungen, kleine und große, kurze und langwierige, weihen uns zu Menschen, bringen uns unserem wahren Menschsein näher. Sie helfen uns auch, unser eigenes, höheres geistiges Sein, das uns verborgen ist, wieder zu entdecken.

 

Wenn wir dann das Mysterium dieses göttlichen Durchganges durch das Nichts kultisch, in Gemeinschaft, mitvollziehen, sprechen wir von der Menschen-Weihe-Handlung. Sie führt, jedes Mal, vom väterlichen Weltengrund über die Opfertat und Auferstehung des Christus zum heilsamen Verstehen, zum Heiligen Geist und damit vom in der Welt und im Leiden verborgenen zum in uns Menschen offenbaren Gott.