Geheimnis – nicht alles verstehen wollen

AutorIn: Karl Schultz

»Nicht alles verstehen wollen?« Da ist wohl was dran: »Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß«. Was ich nicht verstehe, geht mich nichts an? Lieber überlassen wir das Denken und Wollen einer sogenannten »künstlichen Intelligenz«. Ein Computer ist aber kein Mensch und schon gar kein weiser Mensch. Wenn der Mensch – ich meine das nicht böse! – sich immer mehr dem Ideal eines hochwertigen, wenn auch etwas anfälligen, Computers nähert, wenn dem Menschen ein Hang zur Massierung von Informationen innewohnt und er seine Bestätigung als Wesen einer Gemeinschaft darin findet, fortwährend seine Kapazitäten an diesen Aufnahme- und Abgabefähigkeiten zu beweisen und dies alles unter dem Begriff des Wissens oder einer Intelligenz rechnet, dann ist Wissenschaft tatsächlich etwas anderes als Weisheit.

»Nicht alles verstehen wollen?« Spricht das nicht andererseits gegen die Natur des Menschen? Drängt er nicht seit seiner Existenz nach Erkenntnis? Will er nicht alles verstehen, alles wissen, alles durchschauen, alles durchdringen? Will er nicht sein wie Gott? Wir leben in einer Wissens- und Informationsgesellschaft. Wir schütteln die Bäume der Erkenntnis und sammeln viel Fallobst auf. Skandal! Der NDR, der WDR und die Süddeutsche Zeitung haben mal wieder etwas aufgedeckt: »Enthüllungsjournalismus« – und wir schrecken indes auf oder freuen uns am Schaden anderer, befriedigen unsere Neugier, sorgen für Spott oder empfinden schlicht Lust an der Sensation. Manchmal sind wir allerdings an Wahrhaftigkeit interessiert, an Transparenz. Uns geht Geheimniskrämerei ziemlich auf die Nerven, besonders wenn sie mit einer Wichtigkeit daherkommt. 

Geheimnis – nicht alles verstehen wollen?«, so lautet das Thema. Können wir uns darauf einigen, dass ich in »Glaubenssachen« statt vom Geheimnis lieber vom Mysterium rede? Die Bezeichnung Mysterium scheint mir auf Gott bezogen angemessener. Der Genitiv »Gottes«, mit dem das Wort Mysterium im Neuen Testament meistens verbunden ist, drückt diesen Zusammenhang viel deutlicher aus, dass nämlich das Mysterium eben nicht nur das »göttliche Geheimnis«, sondern im strengen Sinne »das Geheimnis Gottes« ist, oder vielmehr Gott selber als das Geheimnis bezeichnet. Jesus wollte in seiner Gleichnisrede seinen Jüngern die »Mysterien« des Reiches Gottes »enthüllen«, die eben in dieser Gleichnisrede zugleich für die anderen verhüllt und verborgen bleiben sollten (vgl. Mt 13,11). Für den Völkerapostel ist das Mysterium der Inbegriff all dessen, was vor aller Zeit in Gottes Ratschluss verborgen – nun aber in Christus offenbar geworden ist (vgl. Röm 16,25f.), Jesus Christus daselbst ist das »Mysterium Gottes« (vgl. Kol 2,2f.), in ihm sind alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen. Das große Geheimnis, dass in Christus Gott und Mensch, Himmel und Erde in einer neuen und unerhörten Weise verbunden sind, ist der Inhalt und Sinn unserer Gottesverehrung und zugleich der Inhalt unseres Bekenntnisses und unserer Verkündigung (vgl. 1. Tim 3,16). Das Mysterium ist die verborgene, aber nun für uns erschlossene Quelle, aus der sich alles christliche Denken, Erkennen und Reden speist und erneuert.

Der Versuch also, das griechische Wort mysterion einfach mit dem deutschen Wort Geheimnis wiederzugeben, ist eigentlich unzulänglich. Denn gerade der weitere und abgeschwächte Sinn, in dem wir im allgemeinen Sprachgebrauch von Geheimnissen reden, kann eben auf das Mysterium nicht angewendet werden. Irgendein Plan, ein Stück ganz persönlicher Lebensgeschichte, eine heimliche Liebe, eine heimliche Schuld oder auch eine politische, eine militärische »Geheimsache«, ist wohl ein Geheimnis, und niemand darf »verraten«, was ihm als Geheimnis anvertraut ist, aber wenn das Schweigen gebrochen ist, wenn das Verborgene offenbar geworden, das Geheimnis »verraten« ist, dann hat es aufgehört, ein Geheimnis zu sein. Niemand kann, und wenn er es auch noch so gerne wollte, wieder einen Schleier legen über das, was enthüllt ist – es ist veröffentlicht.

Das Geheimnis Gottes aber ist kein Spezialfall solcher Geheimnisse. Seine Verborgenheit ist tiefer begründet als in dem Nicht-Wissen derer, für die es ein Geheimnis ist, oder in der Verschwiegenheit derer, die darum wissen. Das Geheimnis Gottes hört nicht auf, Geheimnis zu sein, auch wenn es offenbar geworden ist. Es bleibt das Nicht-Sichtbare, das Nicht-Sagbare, das Nicht-Begreifliche, das Unerforschliche und Unzugängliche. Das Mysterium kann bezeugt und verkündigt, es kann auch »verraten«, aber es kann nicht veröffentlicht werden.

Der im Jahre 1968 verstorbene Romano Guardini hat schon 1942 geschrieben, dass das moderne Geistesleben auf seinem Rückzug vom Rationalismus nur beim Mysterium seine Heimat finden könne. Dieses prophetische Wort drückt aus, was vielleicht die Redakteure sich bei der Themenfindung für 2019 dachten und für den Monat Februar formulierten: Geheimnis – nicht alles verstehen wollen.