Über die Anziehungskraft des Bezüglichen

AutorIn: Mathias Wais

Auch Tante Ilse weiß, dass gehäkelte Topflappen passé sind, »ultramontan«, sagt sie gerne, denn sie hat mal Latein gelernt. »Aber«, sagt sie dann auch, »das Leben des Menschen ist wie das Häkeln eines Topflappens: Alles hängt mit allem zusammen, jeder Faden, jeder Knoten wird getragen vom Gesamtzusammenhang aller anderen Fäden und Knoten.«

Oha. Da greift sie ja gleich tief in den Korb, der Philosophie heißt. »Wieso Philosophie?«, sagt sie dann. »Man muss ja nur genau hinschauen: Dinge, die zusammengehören, treten auch zusammen auf. Neulich las ich in den Feldpostbriefen meines Mannes Georg. Am selben Abend gab es – ich wusste vorher nichts davon – im Radio eine Sendung über die damaligen Spätheimkehrer. Am Morgen danach rief mich seine Schwester an, sie blättere gerade in alten Fotoalben, dabei sei ihr aufgefallen, dass sie kein einziges Foto ihres Bruders besitze. Die drei Vorkommnisse gehörten sinnhaft zusammen und deshalb treten sie auch zusammen auf. Wer weiß, vielleicht hat Schorsch gerade mal wieder auf die Erde zurückgeblickt. Jedenfalls hab ich seiner Schwester ein paar Fotos von ihm geschickt.«

Naja. Wer entscheidet denn, was zusammengehört? Kann es nicht einfach Zufall gewesen sein?

»Die Fäden und Knoten meines gehäkelten Topflappens hängen nicht zufällig zusammen, sondern mit Bedacht, mit System, wie man heute sagt. Da gibt es etwas – das Schicksal vielleicht –, das mit Bedacht in meinem Leben zusammenführt, was zusammengehört.«

Mit Verlaub, das erinnert mich doch an das alte Scherzchen: »Was ist das? Es hängt an der Wand, macht Tick-tack und wenn es herunterfällt, geht das Gartentörchen auf? – Antwort: Zufall.«

Gut, es gibt bessere Witze, aber was ich sagen möchte: Nur weil du meinst, dass Ereignisse zusammengehören, weil sie etwa gleichzeitig auftreten, heißt das ja noch nicht, dass sie sinnhaft zusammengehören. Sie könnten einfach zufällig zusammen aufgetreten sein.

»Nee, nee«, sagt Tante Ilse. »Wenn so ein Zusammentreffen von Ereignissen oder Begegnungen bei dir Resonanz hat, wenn du damit etwas anfangen kannst, wenn es dir etwas sagt, wenn es für dich Sinn macht, dann ist es eben kein Zufall.«

Ich wage ein Aber: Erlebt man den Sinn, also, findet man ihn, ist er also bereits da, ich muss ihn nur entdecken? Oder stifte ich den Sinn, lese ich ihn hinein in die Ereigniskonstellation?

»Könnte man meinen«, sagt Tante Ilse milde, »denn zwei Menschen können je einen anderen Sinn in dem Ereigniszusammentreffen sehen. Meine älteste Tochter hat sich kurz vor ihrem Celloexamen das Handgelenk gebrochen. Für sie hieß das zunächst: Aufhören mit Cellospielen. Das Schicksal will nicht, dass ich Cello spiele. Ich wiederum sah einen gegenteiligen Sinn drin: Das Schicksal prüft, ob sie wirklich ihren Weg als Cellistin gehen will, indem es ihr ein Hindernis – den Handgelenkbruch – in den Weg legt. Da hätte die Ereigniskonstellation – Zusammentreffen von Celloprüfung und Handgelenkbruch – also zwei verschiedene Sinne gehabt. Und wenn noch ein oder zwei andere Menschen dieses Zusammentreffen beurteilt hätten, hätte es womöglich nochmal ein oder zwei weitere Sinne gegeben.« Wiederum blickt sie freundlich lächelnd von ihrem halbfertigen Topflappen auf. »Nicht aufgeben. Der Sinn, die Sinne eines Ereigniszusammenhangs, einer Begegnung etc. sind alle da. Aber jeder Mensch muss aktiv selbst den Sinn finden, den der Zusammenhang für ihn hat. Und hören darauf, dass andere vielleicht einen anderen Sinn darin sehen. Es ist wie mit der Steinbildhauerei. Jeder Bildhauer wird eine andere Form aus dem Block schlagen. Alle Formen sind schon da und doch wird meist nur eine davon realisiert.« Jetzt legt sie ihr Häkelzeug für einen Moment zur Seite und blickt aus dem Fenster: »Wir Heutigen – und ich möchte mich mit meinen neunzig Jahren dazurechnen – haben das Privileg, selbst den Sinn, die Sinne eines Ereignisses zu finden. Früher hat die Tradition das vorgegeben. Sinnfindung und Sinnstiftung sind das gleiche. Ich finde einen Sinn – den das Schicksal im Auge haben mag – und stifte ihn für mich, ich mache ihn mir zu eigen. Ich mache etwas daraus.«

Tante Ilse häkelt übrigens immer ein Muster, manchmal sogar ein richtiges Bild in die Topflappen, zu dem sie offenbar ihre Museumsbesuche inspirieren. »Es ist wie mit der heutigen Kunst: Ein Bild, fünf Meinungen dazu. Du stehst vor einem Gemälde von, sagen wir, Herrn Modigliani, und findest einen Sinn darin. Aber die zwanzig anderen Personen, die jetzt gerade auch im Museum sind, finden auch einen Sinn darin, und zwar findet jeder einen anderen. Und dann ist nicht die eine Sinnfindung richtig und die andere falsch. Alle sind richtig insofern, als das Gemälde bei jedem Individuum etwas anderes hervorruft. Die Resonanz ist bei jedem Betrachter eine andere. Das Bild enthält alle diese Sinne oder Deutungsmöglichkeiten. Und sicher noch mehr. Das Sinngeschehen ist unabschließbar.« Sie flüstert das jetzt nur, und greift ihre Häkelarbeit wieder auf.

Also hätte mein Leben, hätten die Ereigniskonstellationen in meinem Leben mehrere Sinne? Wie verwirrend.

»Nicht verwirrend«, kontert Tante Ilse. »Es heißt ja nur, dass du frei bist darin, welchen der möglichen Sinne du aufgreifst. Es ist deine Freiheit – und deine Verantwortung. Worauf es ankommt, ist, dass du etwas daraus machst, was du auf dieser Sinnebene erlebst. Mach es dir zu eigen. Der Sinn, die Sinne von etwas bieten sich dir an – du kannst auch sagen, sie finden dich. Aber du musst dir, deinem Leben den Sinn stiften, aktiv, durch Entscheidung und Handeln, der sich dir gezeigt hat.

Meine Tochter hat sich übrigens damals meiner Sinndeutung angeschlossen, ist ein Jahr lang durch verschiedene Therapien gegangen. Heute ist sie Cellistin in einem großen Philharmonieorchester.«