Wenn Sinn im Innern aufleuchtet

AutorIn: Astrid Bruns

Zwei Bilder standen mir in meinem zwanzigsten Lebensjahr in der Seele gegenüber. Der lächelnde Buddha unter dem Bodhibaum und der leidende Christus am Kreuz. Und zunächst lag es mir sehr viel näher, mich mit dem Lächelnden auseinanderzusetzen als mit dem Gemarterten.

 

Bei näherem Umgang jedoch bekam ich Schwierigkeiten. Den Auftrag Buddhas verstand ich so: Überwindung der Maja, der großen Täuschung des irdischen Seins, und Rückkehr ins Nirwana, in den außerzeitlichen seligen Zustand des Eins-Seins mit der Gottheit, dem All-Einen. In der Meditation ließ sich aus der Sinneswelt ausbrechen und in diesen seligen Zustand eintreten, Satori genannt, aus dem der Meditant regelmäßig gelobte, in die äußere Welt zurückzukehren, um alle Wesen zu erlösen und zurück in den Schoß der Gottheit zu führen. Erst wenn wirklich alle erlöst seien, würde er selber ganz dort eingehen. – Nun ließ mich aber eben das Eintreten in die endlose Weite des Satori regelmäßig zurückschrecken. Etwas stimmte nicht. Es brauchte eine Weile, bis ich dahinter kam: Die Vorstellung, dass alles Sein einzig den Sinn habe, überwunden zu werden, um in den Urzustand der Einheit mit der Gottheit zurückzukehren, erschien mir sinnlos. Der ganze Aufwand, alles Leiden und Ringen, dieser lange beschwerliche Weg durch alle Kreatur sollte einzig dorthin führen, am Ende wieder an den Ausgangspunkt zurückzukehren und zu bemerken, dass alles Täuschung war? – Das konnte so nicht stimmen! Ich musste etwas falsch verstanden haben. Einen anderen Sinn konnte ich aber in den buddhistischen Schriften damals nicht finden. Und so schön die Vorstellung auch war, wie der Kapitän erst als allerletzter das sinkende Schiff der vorgetäuschten Erdenwelt zu verlassen, es war doch auch traurig, ja geradezu erbärmlich … Alles Sein wäre umsonst und nichtig und unser einziges Ziel die Rückkehr in das große Nicht-Sein – das Nirwana.

 

Schließlich postulierte ich in jugendlichem Überschwang: Das Sein und das Leben an sich seien doch Sinn genug, warum sollte man noch nach einem Sinn darüber hinaus fragen? Ja, ich nannte die ganze Sinnsuche überheblich und müßig. – Das hielt aber nicht lange an. Bei einem Besuch in Freiburg erlebte ich dort im Münster zum ersten Mal seit meiner Kindheit das spontane Bedürfnis zu beten; nicht mich in ein Namenloses in meinem Inneren zu versenken, sondern mich im Innern einem Gegenüber zuzuwenden. Dieses Erlebnis überraschte mich völlig, es war wie durch die Erhabenheit dieses gotischen Gotteshauses selber ausgelöst. Und ich empfand wirklich in mir etwas Wesenhaftes, das mich warm und liebevoll erfüllte, anders als in der Meditation, ganz ohne die Gefahr, mich selber darin zu verlieren und aufzulösen. In mein Weltbild passte dies Erlebnis allerdings nicht hinein. Die Gottessohn-Frage hatte ich für mich bereits als undenkbar fallen gelassen, als Absurdität, einzig konstituiert, um die Menschen klein und demütig zu halten und Macht über sie auszuüben. Verstanden hatte ich sie bis dahin nie. Ich entschied in diesem Moment: Sollte ich je herausfinden, dass doch etwas daran wäre, so würde ich mein ganzes Leben in den Dienst dieser Wahrheit stellen.

 

Einige Wochen später entdeckte ich während der Rast bei einem Fahrradausflug im Altmühltal am Waldrand zwischen Feldern ein halb verwittertes Kruzifix. Es war sehr schlicht, hatte nichts Übersteigertes oder Süßliches, nichts Aufdringliches; der Gekreuzigte mit ernstem, still-innerlichem Ausdruck und blutenden Wunden. Da erinnerte ich mich an ein Bild aus der Hamburger Kunsthalle, das mich beeindruckt hatte: Engel fingen darauf in goldenen Gefäßen das Blut aus den Wunden des Gekreuzigten auf. Und mit einem Mal erhellte sich mein Inneres. Ich empfand größte Hochachtung vor dieser unfassbaren Tat, vor dem Opfer seiner selbst für die Menschen. Gott selbst, ein Wesen das alle Schöpferkraft in sich vereinte, ließ sich kreuzigen von den verblendeten Menschen, die ihn nicht verstanden. – Was mir bisher absurd erschienen war, gewann in diesem Lichte Sinn. Er ließ uns Menschen frei. Frei an ihm vorbeizugehen und nichts von seiner Opfertat zu bemerken. Frei, selbst wenn damit alles umsonst wäre und nichts gewonnen durch seinen Tod, weil er unbemerkt bliebe. Weiter konnte ich damals noch nicht denken, aber empfinden konnte ich die Größe dieser Tat ganz unmittelbar. Die Welt gewann nun Sinn. Wir waren nicht allein gelassen. Wir waren nicht in eine Welt hineingestellt, ja geworfen, die einzig dem Untergang preisgegeben sein sollte. Nein, wir hatten jemanden, der mit uns ging in größtmöglicher Liebe und Zugewandtheit und doch absolut freilassend. Der alle Macht hätte und ganz darauf verzichtete, sie auszuüben. Der Sohn Gottes; Gott selbst hatte alles in dessen Hand gegeben und Er hatte alles in unsere Hand weitergegeben. – Was für eine unfassbare Entdeckung!

Es dauerte lange, ehe ich sie verarbeitet hatte. Aber Sinn hatte ich seitdem gefunden, als inneres Evidenzerlebnis, noch nicht in klare Gedanken fassbar. Dafür brauchte ich noch viele Jahre. In der Anthroposophie Rudolf Steiners fand ich schließlich die Grundlage, auf der ich mein Erleben auch durchdenken und immer weiter fassen konnte.