Die Kräfte im Weltall: Schwerkraft und Gnade | Simone Weils radikaler Gegensatz

AutorIn: Ruth Ewertowski

»Die Schwerkraft ist die Kraft schlechthin – und gibt es genaugenommen irgendeine andere?«1 – Erst einmal nicht. Die Schwerkraft ist für die französische Philosophin Simone Weil das eine umfassend wirkende Naturgesetz, das uns hier auf der Erde bestimmt. Sie ist zugleich die große Metapher, mit der sich auch alle Wirkungen im Zwischenmenschlichen beschreiben lassen. Wir sind dieser Kraft unterworfen, aber wir verwenden sie auch beständig. So sind wir im Sinne dieser Kraft stets darauf aus, für das, was wir tun, einen entsprechenden Gegen- oder Mehrwert zu erlangen, und sei es den, dass wir in unserem Selbstwertgefühl wachsen, wenn wir etwas Gutes getan haben. Wenn wir leiden, wollen wir dafür entschädigt werden, und wenn es durch das Mitleid eines anderen ist. »Man bedarf eines gleichwertigen Lohnes. Unvermeidlich wie die Schwerkraft.«2 Wenn wir unsere Rechte einfordern, handeln wir im Sinne dieser Kraft, ebenso wie wenn wir Rache nehmen. Immer geht es um Ausgleich, um Schulden, die andere bei uns haben, um Entschädigung für irgendeinen Nachteil, um Lohn für eine Leistung. Wo eine Leere entsteht, muss sie angefüllt werden. Eine Langeweile ruft nach Unterhaltung, ein Leid nach Vergeltung. Das geht bis dahin, dass man eine gewisse Befriedigung empfindet, wenn es nicht nur einem selbst, sondern auch anderen schlecht geht, denn darin liegt eine Gerechtigkeit, die ganz der Schwerkraft entspricht. Es ist das Prinzip der Ökonomie, der Kompensation, das die Dinge am Laufen hält. Diese Kraft beherrscht die Natur ebenso wie die Moral – »und gibt es genaugenommen irgendeine andere?« – Ja doch, es gibt noch eine andere: das Licht. 

Das Licht ist die natürliche Gegenkraft zur Schwerkraft. Während die Schwerkraft alles nach unten zieht, zieht das Licht nach oben. Gleichwohl ist auch das Licht für Simone Weil vor allem eine Metapher für die Bedingtheit des Menschen, denn hier zeigt sich sein Unvermögen: Der Mensch ist nicht fähig, sich von Licht zu nähren. Er hat das Chlorophyll nicht, mit dem die Pflanzen von ihm leben können, ohne in den tragischen Kreislauf von Schädigung und Entschädigung einzutreten. Deshalb darf man den Menschen nicht richten, denn: »Alle Vergehen sind gleich. Es gibt nur ein Vergehen: dass wir nicht fähig sind, uns von Licht zu nähren.«3 Es ist klar, dass dies kein »Vergehen« im üblichen Sinne ist. Eher beschreibt diese Unfähigkeit, die gleichzeitig bedeutet, dass wir in allem der Schwerkraft unterworfen sind, die Situation des Menschen als eines »Gefallenen«: Der Mensch lebt im Zustand eines Unvermögens. Das ist seine »Sündenkrankheit«: Er lebt in der Ambivalenz dieses Naturzustandes einerseits und der Verantwortung auch für ihn andererseits. Er kann nichts dafür und hat doch die Aufgabe, es anders zu machen, als es in seiner »kranken« Natur liegt. – Wie das nun gegenüber einem allmächtigen Naturgesetz gehen soll, ist die Frage, die das Wesen des Menschen betrifft, dem er eigentlich nur gerecht wird, wenn es ihm schließlich doch gelingt, die Wirkungen der Schwerkraft zu überwinden. 

Und es geht – wenn auch zunächst nur ausnahmsweise. Die Gelegenheit dazu besteht beständig, nämlich überall da, wo man es erträgt, wenigstens einen Moment lang, auf einen Ausgleich zu verzichten. Das Wissen um die alltägliche Wirkung der Schwerkraft kann helfen, sich dieser Situation auszusetzen, und sei es nur für eine Sekunde. In dieser aber liegt dann die Chance, dass einem eine andere Kraft zuteil wird. Wir sind in unserem Wesen aufgefordert, dieser anderen Kraft den Raum zu geben. Und die Gelegenheit dazu haben wir immer. Simone Weil notiert sich hierzu: »Notwendigkeit eines Lohnes, Bedürfnis, den Gegenwert dessen zu empfangen, was man gibt. Lässt man jedoch, diese Nötigung, dieses Bedürfnis überwindend, eine Leere, so entsteht etwas wie ein Luftzug, und ein übernatürlicher Lohn fällt uns zu. […] Der Mensch entrinnt den Gesetzen dieser Welt nur auf die Dauer eines Blitzstrahls. Augenblicke des Innehaltens, der Kontemplation, der reinen Intuition, der geistigen Leere, der Hinnahme der sittlichen Leere. Durch diese Augenblicke ist er des Übernatürlichen fähig.«4 Solche Momente brechen die Wirkungen der Schwerkraft. Auf sie können wir aufmerksam sein. Es sind keine Momente jenseitiger und illusionärer Abstraktheit, aber in ihnen liegt eine Transzendenz, die zugleich dem Gegenpol der Schwerkraft den Weg bereitet: der Gnade, die wie das Licht, das sie ins Bild bringt, kein Tauschobjekt ist, sondern sich ohne Gegenleistung verströmt. In der Leere, die eine Wirkung der Schwerkraft ist – wenn wir ohne Ausgleich bleiben –, ist der Berührungspunkt zwischen den beiden Kräften der Welt: Schwerkraft und Gnade. Wir Menschen sind es, die diese Kräfte vermitteln können, denn dies geschieht nicht von Natur aus.  

 

1  Simone Weil: Cahiers, Aufzeichnungen, übers. von Elisabeth Edl u. Wolfgang Matz,
Bd. 1, München/Wien, S. 251

2  Simone Weil: Schwerkraft und Gnade, übers. von Friedhelm Kemp, München 1989, S. 20

3  Ebd. S. 12

4  Ebd. S. 21f