Milde – und was sie so einzigartig macht

AutorIn: Michaela Glöckler

Wir wissen alle, was Milde ist – es ist eines der schönsten Naturerlebnisse: mildes Sonnenlicht – oder eine abendlich milde Luft nach einem heißen Tag. Unter Menschen haben Ausdrücke wie »ein mildes Lächeln« oder »eine milde Gabe« allerdings eher den Charakter eines gewissen Unvermögens, um nicht zu sagen der Schwäche. Wer für einen anderen nur ein mildes Lächeln übrig hat, stellt sich über den anderen und versteht diesen im Grunde nicht. Und eine milde Gabe ist nicht unbedingt das, was dem Bedürftigen wirklich hilft. Sie dient oft mehr der eigenen Gewissensberuhigung als dem, was der andere braucht. So eindeutig uns der Begriff bzw. die Erfahrung der Milde in der Natur entgegentritt, so verborgen, schwer zugänglich und im Grunde noch sehr weit entfernt von echtem Verstehen scheint dies mit der Milde im menschlichen Erfahrungsfeld zu sein. Dafür spricht auch, dass das Wort in der Umgangssprache nur selten Verwendung findet und uns eher in Dichtkunst und Literatur begegnet. Dort aber steht es zumeist für ein allerhöchstes menschliches Entwicklungsideal. Schon in der epischen Literatur des christlichen Mittelalters steht der mittelhochdeutsche Terminus »milte« für die höchste ritterliche Tugend: Ritterlichkeit als solche, im Umgang freundlich, barmherzig, nachsichtig, »ritterlich« eben. So auch in Wolfram von Eschenbachs Parzifal. Dort ist die »milte« ein oft gebrauchtes Wort und kennzeichnet den guten Ritter, ja die christliche Tugend schlechthin. »Milte« und »Manheit« gehören hier zusammen. Das Wahrnehmen der Bedürfnisse anderer, der Not und des Elends ebenso wie möglicher Gefahren sind äußerer Ausdruck dafür. Engherzigkeit (acerbitas) und Geiz (avaritia) wurden als Gegensatz der Milte angesehen. So wundert es auch nicht, dass dieses Wort in der klassischen und romantischen Dichtung, insbesondere im deutschen Idealismus dort vorkommt, wo es um höchste menschliche Vollkommenheit oder eine tief christliche Lebenshaltung geht. Ein berühmtes Beispiel dafür ist Schillers Gedicht Die Johanniter:

 

Herrlich kleidet sie euch, des Kreuzes 

furchtbare Rüstung, 

Wenn ihr, Löwen der Schlacht, 

Akkon und Rhodos beschützt,

Durch die syrische Wüste 

den bangen Pilgrim geleitet

Und mit der Cherubim Schwert steht vor 

dem heiligen Grab.

Aber ein schönerer Schmuck umgibt euch 

die Schürze des Wärters,

Wenn ihr, Löwen der Schlacht, 

Söhne des edelsten Stamms,

Die an der Kranken Bett, dem Lechzenden 

Labung bereitet

Und die niedrige Pflicht christlicher Milde 

vollbringt.

Religion des Kreuzes, nur du 

verknüpftest in einem

Kranze der Demut und Kraft doppelte 

Palme zugleich.

 

Bei Goethe findet sich der Begriff der Milde an zentraler Stelle in allen Fassungen seines berühmten Gedichtes Willkommen und Abschied vom Jahre 1771 an bis zur sogenannten Spätfassung 1789. 

 

Willkommen und Abschied

 

Es schlug mein Herz, geschwind, zu Pferde!

Es war getan fast eh gedacht

Der Abend wiegte schon die Erde

Und an den Bergen hing die Nacht;

Schon stand im Nebelkleid die Eiche,

Ein aufgetürmter Riese, da,

Wo Finsternis aus dem Gesträuche

Mit hundert schwarzen Augen sah.

 

Der Mond von einem Wolkenhügel

Sah kläglich aus dem Duft hervor,

Die Winde schwangen leise Flügel,

Umsausten schauerlich mein Ohr;

Die Nacht schuf tausend Ungeheuer

Doch frisch und fröhlich war mein Mut:

In meinen Adern welches Feuer!

In meinem Herzen welche Glut!

 

Dich sah ich, und die milde Freude

Floss von dem süßen Blick auf mich;

Ganz war mein Herz an deiner Seite

Und jeder Atemzug für dich.

Ein rosenfarb’nes Frühlingswetter

Umgab das liebliche Gesicht,

Und Zärtlichkeit für mich – ihr Götter!

Ich hofft es, ich verdient es nicht!

 

Doch ach, schon mit der Morgensonne

Verengt der Abschied mir das Herz:

In deinen Küssen welche Wonne!

In deinem Auge welcher Schmerz!

Ich ging, du standst und sahst zur Erden

Und sahst mir nach mit nassem Blick:

Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!

Und lieben, Götter, welch ein Glück.

 

In allen Fassungen des Gedichtes ist es die milde Freude, die den Blick der Geliebten kennzeichnet, der Goethe durch sein ganzes weiteres Leben hindurch unvergesslich geblieben ist. Als er sie – Friederike Brion – acht Jahre nach der Erstbegegnung auf seiner zweiten Schweizer Reise noch einmal besucht, fasst er das Erlebnis am 25. September 1779 in einem Brief an seine Weimarer Freundin Charlotte von Stein so zusammen: »… abends ritt ich etwas seitwärts nach Sesenheim, indem die anderen ihre Reise grad fortsetzten, und fand daselbst eine Familie, wie ich sie vor acht Jahren verlassen hatte, beisammen (…) Da ich jetzt so rein und still bin wie die Luft, so ist mir der Atem guter und stiller Menschen sehr willkommen. Die zweite Tochter vom Hause hatte mich ehemals geliebt, schöner als ich’s verdiente, und mehr als andere, an die ich viel Leidenschaft und Treue verwendet habe, ich musste sie in einem Augenblick verlassen, wo es ihr fast das Leben kostete, sie ging leise drüber weg, mir zu sagen, was ihr von einer Krankheit jener Zeit noch überbliebe, betrug sich allerliebst mit so viel herzlicher Freundschaft vom ersten Augenblick, da ich ihr unerwartet auf der Schwelle ins Gesicht trat und wir mit den Nasen aneinanderstießen, dass mir’s ganz wohl wurde. Nachsagen muss ich ihr, dass sie auch nicht durch die leiseste Berührung irgendein altes Gefühl in meiner Seele zu wecken unternahm. Sie führte mich in jede Laube, und da musst’ ich sitzen und so war’s gut. Wir hatten den schönsten Vollmond. Ich erkundigte mich nach allem. (…) und ich fand mein Andenken so lebhaft unter ihnen als ob ich kaum ein halbes Jahr weg wäre.«1 Was Goethe hier so dankbar erlebt, ist die völlige Abwesenheit von Liebesäußerungen, die sich nach dem »Besitzen« des geliebten Wesens sehnen – stattdessen begegnet ihm die selbstlose Freude am anderen Menschen, in der sich innige Liebe ohne Anwandlung zum Egoismus darleben kann.

 

Novalis verwendet das Wort Milde in seinen berühmten Hymnen an die Nacht nur einmal, und zwar da, wo es um die christliche Botschaft geht, die der Sänger unter »jenem milden Himmel« Indostans (persischer Ausdruck für Indien) in überirdischer Begeisterung verkündet.

In der Anthroposophie Rudolf Steiners tritt uns die Milde als Hauptcharakterzug christlicher Rosenkreuzergemeinschaften entgegen. Wenn einander unbekannte Rosenkreuzer sich begegneten, erkannten sie sich am milden Augenglanz im Blick. Entsprechend lesen wir auch in Steiners Schulungsbuch Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, dass die Handlungsweisen des Schülers auf dem Erkenntnispfad zunehmend »das Gepräge der Milde« bekommen. Er nennt die Milde »ein Hauptmittel« der inneren Schulung (GA 10, S. 97). Entsprechendes erleben wir auch in Steiners Mystereindrama Die Prüfung der Seele. Dort ­äußert sich der zweite Zeremonienmeister in der mittelalterlichen Burg, in der eine rosenkreuzerische Bruderschaft ihren Sitz hat, über den Meister dieser Bruderschaft und seine Hauptcharaktereigenschaft:

 

Des Meisters Milde fließt aus unseren Lehren.

Wir dürfen nicht als höchstes Lebensziel

Verständnis aller Menschenseelen künden

Und unsere Gegner selbst doch missverstehen.

 (GA 14, 8. Bild)

 

Das christliche Motiv »liebet eure Feinde, betet für eure Verfolger« (Mt 6,44) lässt sich nur realisieren, wenn wir die Beweggründe der Feinde und Verfolger kennen und verstehen.

Was sagen uns diese Beispiele über das Wesen der Milde? 

Zum einen können sie deutlich machen, dass es sich bei der Milde offenbar um ein höchstes Ideal menschlicher Vollkommenheit handelt – ja um das spezifisch Menschliche selbst. In dieser Form tritt uns dieses Wort auch im Rahmen der Menschenweihehandlung entgegen, und zwar in der Michaeli-Epistel, wo von »Christi Milde« gesprochen wird. Wird Milde als tiefster Wesenszug des Christus Jesus empfunden, so wird verständlich, warum diese Eigenschaft uns Menschen noch so ferne liegt, obwohl wir im Grunde alle wissen oder zumindest ahnen, worum es dabei geht. Milde ist offenbar ein Wort für die Kerneigenschaft des menschlichen Ich. Einer Eigenschaft, für die sonst auch das eher abstrakte Wort Selbstlosigkeit steht. Gibt es doch keine größere Ich-Stärke als die, vollkommen von sich absehen zu können, sein »Selbst« »los«lassen zu können, ohne Angst haben zu müssen, sich dabei zu verlieren. Nur dadurch, dass wir gänzlich von uns absehen können, sind wir wirklich offen für das, was ein anderer Mensch, die Umgebung oder die Welt gerade brauchen. Wir werden dadurch im wahrsten Sinne des Wortes »geistesgegenwärtig«.  

 

1  Zitiert nach:
Goethes Leben von Tag zu Tag, Bd. 2, Zürich/München 1983, S. 218