Der Mensch im Mittelpunkt des »Treue-Kreuzes«

AutorIn: Christward Kröner

Was ist über uns? Der Himmel. Was ist unter uns? Die Erde. Was liegt vor uns? Die Zukunft – was liegt hinter uns? Die Vergangenheit. 

Das klingt vielleicht ein bisschen simpel, aber sei’s drum. Wir können unsere menschliche Existenz in ein raumzeitliches Kreuz stellen – ein Kreuz, das wir auch »Kreuz der Treue« nennen können, insofern jede dieser Beziehungsrichtungen aus Treuekräften konstituiert ist.

Für gewöhnlich betrachten wir Treue als eine Tugend, die sich aus den menschlichen Seelenkräften speist. In diesem Sinne ist sie nichts, was von alleine da wäre, sondern etwas, das fortwährend hervorzubringen ist. Insofern ist sie auch Ausdruck der menschlichen Freiheit.

Die Idee vom »Treu-Sein«, einem Menschen, einem Ideal, einer »Sache« gegenüber, impliziert, dass ich mich auch »untreu« verhalten könnte, aber bewusst dafür entscheide, Treue zu üben. Und stets handelt es sich dabei um etwas, das in der Zeit durchzutragen ist. Treu sein für einen Augenblick gibt es nicht. Natürlich kann die Treue in besonderen Augenblicken geprüft werden. Aber das Wesen der Treue offenbart sich gerade darin, dass ich durch einen längeren oder langen Zeitraum, womöglich für die Dauer meines ganzen Lebens, diese Seelenkraft in der Beziehung zu einem gewählten »Gegenüber« pflege.

Ich muss dafür dieses »Gegenüber« (einen Menschen, ein Ideal, eine Sache) einmal als ein solches erkannt und empfunden haben, das mit mir etwas zu tun hat und zu dem ich über die Wechselfälle des Lebens hinweg eine verbindliche Beziehung eingehen und aufrechterhalten will. Und insofern dieses Gegenüber mit mir zu tun hat und der Entschluss zur Treue ein eigener und freier ist, bleibe ich mir selber treu, indem ich diese Beziehung pflege.

Rudolf Steiner schildert das Wesen der Treue einmal so, dass er beschreibt, wie sich die Treue gerade da zeigt und bewährt, wo es mir gelingt, einem einmal geschauten Urbild oder Wahrbild (z. B. eines Menschen) die innere Treue zu halten, auch wenn es sich aktuell nicht mehr auffinden lässt bzw. verdunkelt hat.

Blicken wir nun auf den größeren und ganz großen Zusammenhang, so wie er in dem »Kreuz der Treue« angedeutet ist, so können wir ahnen, dass alles Leben, ja der ganze Kosmos aus Treuekräften gebildet ist. Damit ist gemeint, dass die wirkenden Kräfte Dauer haben, verlässlich sind, auch da, wo sie sich in einem Rhythmus offenbaren. Das zeigt sich im Tierkreis, in den Bahnen der Planeten, im Sonnengang durch den Tag und durch das Jahr. Dauer bzw. verlässlicher Rhythmus sind notwendig, wenn Leben bestehen und sich entfalten soll. Wenn wir uns von dem naiven Glauben verabschieden, dass das alles von ganz alleine da und letztendlich durch nichts verursacht ist, dann müssen wir annehmen, dass die ganze Natur- und Himmelswelt Wirkens- und Willensausdruck von Wesen ist, die in einer gewaltigen und ungeheuer vollkommenen Art über Treue-Kräfte verfügen, durch die sie uns und aller Kreatur die Lebensgrundlage schenken. Diese Kräfte offenbaren sich in den Naturgesetzen ebenso wie in unserem Herz- und Atemrhythmus, den Stoffwechselvorgängen unseres Leibes, den Entwicklungsgesetzmäßigkeiten alles Lebendigen.

Welche »Treuekraft« seiner Bestimmung ­gegenüber und welche »Geduld« lebt in einem Samenkorn, dass sich etwa als Grabbeigabe in der Dunkelheit durch Jahrtausende die Lebenskraft bewahrt und in dem Moment, wo es von Licht und Wasser berührt wird, zu keimen beginnt?

Welche Treue hält uns die Erde als Ganzes, indem sie uns Menschen Jahr für Jahr trägt und erträgt? 

Natürlich ist das alles von einem menschlichen Gesichtspunkt aus gesprochen, den man leicht belächeln kann und der sicherlich auch unzureichend ist – der aber eben doch einen Gefühlseindruck von der Größe und »Treuekraft« der in und durch die Naturkräfte wirkenden Geistwesen vermitteln kann.

Wir können also empfinden: wir werden von oben und unten fortwährend ge- und erhalten aus den Kräften der Hierarchien, die ihre Willensregungen beständig und verlässlich so zusammenwirken lassen, dass die Entfaltung des (menschlichen) Lebens auf der Erde möglich ist.

Bisher sind wir in dieser Hinsicht vollständig Beschenkte. Könnte in ferner Zukunft eine Zeit kommen, in der wir aufgerufen sind, diese Tätigkeit der Hierarchien zu unterstützen und sie immer mehr durch unsere eigenen Bewusstseins- und Treuekräfte hervorzubringen?

Schauen wir auf die Zeitachse des Kreuzes, in dessen Mittelpunkt wir stehen, also in die Vergangenheit und in die Zukunft. Sind wir unseren vorgeburtlichen Impulsen treu geblieben? Man kann ja annehmen, dass jede Inkarnation mit klaren Intentionen verbunden ist. Das Problem ist nur, dass es nicht so leicht ist, sich dieser Intentionen während des Erdenlebens wieder willentlich bewusst zu werden. Woher kommt es, wenn wir uns in unserem Heimatland, in unserer Familie oder in unserem Beruf ganz falsch am Platze fühlen – oder umgekehrt, wenn alles sich ganz einfach und richtig anfühlt und das Leben keinerlei Widerstand entwickelt? Ist unsere Lebenszufriedenheit ein Gradmesser dafür, wie sehr wir unseren ursprünglichen Intentionen haben treu bleiben und folgen können – oder vielleicht gerade nicht?

Und wenn ich meinem Ursprung treu zu bleiben versuche – wie ist es dann mit meinen Zielen? Oder liegen die Ziele schon im Ursprung verborgen, während sie zugleich aus der Zukunft auf mich zukommen, indem ich ihnen zustrebe? 

Etwas, dass mir in der Zukunft widerfährt, kann seine Ursache in der Vergangenheit haben; zugleich kann ein Zukunftsbild, das in mir lebt und zu dem ich mich hin entwickeln will, die Schritte, die ich in der Gegenwart tue, lenken. Wie können wir den Ursprungsintentionen und den während des Lebens – im Raum der Willensfreiheit – gefassten Zukunftszielen zugleich treu bleiben?

Diese Frage kann unseren Blick konkret noch in eine andere Sphäre lenken: Der Engel, der sich besonders mit einem Menschen verbunden hat und ihn nicht nur während des Erdenlebens begleitet, sondern auch und gerade die Verbindung zwischen den aufeinanderfolgenden Inkarnationen bewirkt – er steht ganz eminent in der Aufgabe, das Spannungsverhältnis zwischen unseren tieferen vorgeburtlichen Intentionen und unserem faktischen Verhalten im Freiraum von Irrtum und Willkür auszuhalten und zu ertragen – und trotzdem dem Menschen treu und zugewandt zu bleiben. Bei Christian Morgenstern heißt es:

 

O wüsstest du, wie sehr dein Antlitz sich

verändert, wenn du mitten in dem Blick,

dem stillen, reinen, der dich mir vereint,

dich innerlich verlierst und von mir kehrst!

 

Wie eine Landschaft, die noch eben hell,

bewölkt es sich und schließt mich von dir aus.

Dann warte ich. Dann warte schweigend ich,

oft lange. Und wär ich ein Mensch wie du,

mich tötete verschmähter Liebe Pein.

 

So aber gab unendliche Geduld

der Vater mir und unerschütterlich

erwarte ich dich, wann du immer kommst.

Und diesen sanften Vorwurf selber nimm

als Vorwurf nicht, als keusche Botschaft nur.

 

Das »Aus-dem-Auge-Verlieren« der tieferen Schicksalsabsichten, das »Sich-selbst-Verlieren«, können wir als ein Abwenden vom Engel verstehen. Vom Engel, der dieses Verhalten des ihm anvertrauten Menschen mit unendlicher Geduld, die ihm vom Vatergott gegeben wurde, erträgt und unerschütterlich zugewandt bleibt, ihn erwartet und seine Aufgabe nicht im Stich lässt. Offenbar kann der Mensch nicht aus der Treue des Engels herausfallen – sehr wohl aber kann der Engel der Treue des Menschen ermangeln.

Wenn wir oben gesagt haben, Treue setze Freiheit voraus, so müssten wir an dieser Stelle streng genommen das Verhältnis der Engel-Hierarchien zur Freiheit betrachten, was aber den Rahmen dieses Beitrages sprengen würde.

Stattdessen blicken wir noch eine Engelstufe höher, auf den Erzengel Michael. Als eine seiner wesentlichen Aufgaben schildert die Anthroposophie, dass er an der Seite des Menschen bleibt, der die den Göttern entfallene kosmische Intelligenz aufgenommen hat, und dass er gleichzeitig bestrebt ist, die Verbindung zu dem göttlichen Quellgrund dieser Intelligenz aufrecht zu erhalten. Er bleibt der in den Materialismus verstrickten Menschheit treu und hält zugleich den Göttern die Treue, in denen sein und des Menschen Ursprung liegt. Dadurch verschafft er dem Menschen die Chance, die Intelligenz künftig neu zu spiritualisieren und die Freiheitsfrüchte des Erdenlebens dem Wirken der Hierarchien einzugliedern. Michael bereitet durch sein Wirken in doppelter Treue die Brücke über den Abgrund der Gegenwart; die Brücke, die wir durch die Spiritualisierung unseres Denkens betreten können und die den Ursprung mit den fernsten Zukunftszielen des Menschenwerdens verbindet.

So können wir sehen, auf welche Weise der Mensch im Mittelpunkt des eingangs beschriebenen »Kreuzes aus Treuekräften« steht. Und vielleicht können wir empfinden, wie die Wesen, die uns durch ihre Treue halten, tragen und uns das Leben schenken, darauf warten und hoffen, aus dem Mittelpunkt unseres Wesens – dem Herzen – in Freiheit Antwort zu empfangen.