Treue – »ein goldenes Gefühl«

AutorIn: Ulrich Meier im Gespräch mit Jakob Tewes

Ulrich Meier | Danke, dass du meiner Einladung zu diesem Gespräch gefolgt bist. Ich habe mir gewünscht, nicht mit einem sehr lebenserfahrenen älteren Menschen, sondern mit dir als relativ jungem Mann über das Thema Treue zu sprechen. Vielleicht magst du am Anfang ein bisschen über dich erzählen?

Jakob Tewes | Ich habe unterschiedliche Stränge, die sich durch mein Leben ziehen. Einer ist seit ungefähr 14 Jahren Computer und Digitales – ein relativ frischer Strang. Soziale Entwicklung, das, was in Organisationen zwischen Menschen passiert, beschäftigt mich seit gut zwei Jahren immer intensiver. Gerade bin ich auf der Suche, ob man das verbinden kann. Ich bin 25 Jahre alt, lebe seit sechs Jahren in Hamburg in einer Wohngemeinschaft …

UM | Wenn du auf deine Kinderzeit guckst – was würdest du da zum Thema Treue sagen?

JT | Da fallen mir zuerst meine Eltern ein; dann fällt mir der Raum ein, in dem ich aufgewachsen bin – das Haus, der Wald in der Nähe, die Verlässlichkeit, sich da frei bewegen zu können.

UM | Eltern schaffen durch ihre Treue Verlässlichkeit ...

JT | Ja, und darin liegt etwas Bedingungsloses. Wenn ich zurückdenke, hat Treue auf jeden Fall auch etwas von Wärme, die geschenkt ist.

UM | Wenn du aus deiner heutigen Perspektive mit einem Satz beschreiben solltest: »Treue als menschliche Initiative« − was ist das?

JT | Eine radikale Offenheit dem anderen gegenüber. Eine Verbindung und Verbindlichkeit zu dem, was zwischen Menschen passiert.

UM | Es überrascht mich, dass du die Offenheit für den anderen als Erstes nennst ...

JT | … wobei es natürlich auch eine sehr wichtige Treue mir selbst gegenüber gibt, weil ich es sehr schnell merke, wenn ich mir irgendwann nicht treu bin. 

UM | Ist die Treue zu sich selbst für dich die Voraussetzung zu der Treue anderen gegenüber?

JT | Ja, sonst kann es auch dieses blinde Vertrauen sein. Abhängigkeit.

UM | Und was wäre die Unfähigkeit zur Treue, die Treulosigkeit?

JT | … auf jeden Fall wäre die kalt. Wie das blinde Vertrauen wäre dies ebenfalls eine Form von sozialer Blindheit.

UM | Das klingt nach hoher Verantwortung. Sind Kinder auch schon treu?

JT | Ja. Ich sehe ein Kind vor mir, das in sich versunken spielt und dabei ganz bei sich und ganz mit dem Spiel verbunden ist. Das hat eine vollkommene Reinheit und Treue zu dem, was da ist.

UM | Aber es ist ja eben nicht etwas, wofür sich das Kind anstrengen muss.

JT | Es ist ein Geschenk. Das andere, das mir gerade noch dazu einfällt, ist dieses »Schöpfen aus dem Nichts«. Irgendwie hat es auch etwas davon. 

UM | Das meinte ich auch vorhin mit Initiative. Treue ist immer auch ein Entschluss. Und der liegt sogar in dem kindlichen Spiel, von dem du gesprochen hast. Das spielerische Verbundensein mit etwas, aber in Entschiedenheit …

JT | … und sich nicht davon abbringen lassen … Und das ist eben doch ein feiner Unterschied zwischen Verbundenheit und Abhängigkeit. 

UM | Worin liegt der?

JT | Das eine ist freilassend und macht auf, das andere macht zu und verengt.

UM | Ein Grund, warum ich dich für dieses Interview gefragt habe, war der Anfang unseres ersten Gesprächs, das wir vor einem halben Jahr hatten. Ich erinnere noch, dass du damals den Entschluss gefasst hast, aus deinem bisherigen beruflichen Leben auszusteigen und dich auf etwas ganz Neues einzulassen. Was war das für ein biografischer Augenblick hinsichtlich der Treue?

JT | Es hatte auf jeden Fall sehr viel auch mit der Treue zu meinem höheren Ich – so würde ich es heute ausdrücken – zu tun. 

UM | Dieses Sich-Verabschieden von etwas? 

JT | Ohne dass das Neue da ist …

UM | Das ist für dich trotzdem Treue? 

JT | Unbedingt. Ich brauchte die Treue zu mir, um den Mut zu haben, diesen Schritt zu gehen. Bei mir ging es so weit, dass sich das körperlich geäußert hat, dass ich Migräne bekommen habe und ziemlich genau wusste: Okay, es ist ein Schritt, es hat sich so stark als Kontrast niedergeschlagen. In einer der Nächte, bevor ich meinen alten Job gekündigt habe, ist mir mein Konfirmandenbuch in die Hände gefallen, in dem ein Spruch steht im Sinne von: »Christus wird dich führen, wenn du ihm vertraust.« Sich wirklich fallen zu lassen, ohne zu wissen, was daraus wird – das hatte sehr viel mit Treue zu meinem höheren Ich zu tun. Dass es die Möglichkeit gegeben hat, in dieser Situation gerade und aufrecht zu bleiben.

UM | Ich habe das damals gespürt, hätte es aber nicht so formulieren können, dieses: Ich lasse etwas los und lasse etwas hinter mir – aus Treue.

JT | Ja, das hat eine seltsame Spannung. Aber es geht dabei viel mehr um den Grundton, glaube ich, den weiterzuverfolgen. Ich habe das Gefühl, dass alle guten Geschichten erst am Ende verständlich sind oder erst am Ende der rote Faden sichtbar wird. Ich weiß immer noch nicht, wo sich das wieder zusammenfindet oder wo wieder der Ton ist, der das zur Harmonie bringt.

UM | Ist das nicht der nächste Treue-Schritt: Wenn ich mich entschlossen habe, so zu handeln, dann kann ich auch in diesem Entschluss treu werden, diesem Entschluss die Treue halten.

JT | Es gibt einen Unterschied zwischen innerer und äußerer Treue. Deutlich geworden ist es mir, als mein Entschluss zur Kündigung von ehemaligen Kollegen als Illoyalität aufgefasst wurde. Das ist als deren Sicht von außen auch okay, aber innerlich war es das Loyalste, was ich tun konnte.

UM | Also hängt es vom Blickwinkel ab, ob und wie ich Treue erkenne oder bewerte ...

JT | In dem Prozess war es immer wieder schwierig, mir klarzumachen, dass es eine freie Entscheidung ist, mir da treu zu sein, mir dieser Freiheit immer wieder bewusst zu werden.

UM | Das hat für mich mit der Frage nach der Qualität von Treue zu tun. Treue erweist sich ja gerade nicht in einer äußeren Beständigkeit, sondern es kommt auf so etwas an wie die Bewegung innerhalb des Treuseins. Wie würdest du die beschreiben?

JT | Zum einen bemerke ich diese Bewegung oft erst danach, wenn mir klar wird, dass ich mir selber untreu war. Auf der anderen Seite gibt es ein sehr tiefes Gefühl der Treue, wenn ich weiß, dass es passt oder stimmt, so ein goldenes Gefühl. Das andere bekommt einen faden Beigeschmack, wenn ich danach merke: Okay, das war jetzt nichts, jetzt bist du nicht aufrecht geblieben. Irgendwie hat es dadurch auch etwas Spielerisches beim Ausprobieren: Wo bin ich da jetzt?

UM | Treue erweist sich immer erst als Treue, wobei sie nicht immer gleich aussieht … In der Treue zu mir selbst habe ich es ja zum Beispiel auch immer mit zwei Menschen zu tun …

JT | … wie meinst du das?

UM | Ich unterscheide dabei den Tages- und den Nachtmenschen. Beim Einschlafen verlasse ich meinen Tagesmenschen und morgens finde ich ihn auf fast natürliche Weise wieder. Das bedeutet aber dann auch, dass ich morgens beim Aufwachen mein nächtliches Wesen, mein nächtliches Ich verlasse. Und die Frage ist: Wie bleibe ich diesem meinem Nachtmenschen treu, auch wenn er gar nicht in diesem fokussierbaren und greifbaren Bewusstsein für mich existiert?

JT | Bei mir ist es so: Ich muss mir immer wieder den Raum dafür schaffen, dass er sich melden kann in meinem Alltag. Ich versuche, mir Momente der Ruhe zu gönnen, in denen sich eine Verbindung einstellen kann. Ich merke auch, wenn ich zum Beispiel mein Handy immer bei mir habe, dass es schwer ist, den Raum zwischen den Zeilen des Alltäglichen nicht ständig mit anderem Denken zu füllen und mich für die Begegnung mit mir selbst freizuhalten. Das ist nämlich auch ein Aspekt der Treue zu mir. Wie schade es ist, wenn Menschen zusammen sind und sich ständig mit ihrem Handy beschäftigen … Wie wenig schätze ich den anderen wert? Das heißt dann aber auch: Wie wenig schätze ich mich selber wert, wenn ich die manchmal auch etwas langweilige Zeit mit mir allein nicht auch genießen lerne?

UM | Dein beruflicher Fokus liegt ja momentan auf der Suche nach Ausbildung und Fortbildung in Organisationsentwicklung. Wo begegnet dir auf diesem Feld der Gemeinsamkeit von Menschen in Organisationen das Thema Treue? 

JT | Im Hinblick auf Werte merken sowohl die Mitarbeiter, aber auch die Kunden letztendlich ziemlich schnell, ob in einer Organisation Ernsthaftigkeit oder Treue gelebt wird. Was ich mir vornehme, wie ich sein möchte, das ist sicherlich eine immer größere Herausforderung in unserer immer schnelllebigeren und durch äußere scheinbare Sachzwänge getriebenen Zeit – zumal auch die Menschen mittlerweile immer schneller ihre Arbeitsplätze wechseln. Es ist schwerer, Identität und Treue zu leben und auszustrahlen.

UM | Geht es dir um die Kundenperspektive: Interessiert sich eigentlich die Organisation, bei der ich Kunde bin, für mich oder möchte die nur mein Geld? Oder um die Mitarbeiter, die nicht nur ihre Arbeitskraft verkaufen, sondern einem menschlich überzeugenden Unter­nehmen angehören wollen? Wie kann man dieses Interesse der Mitarbeiter untereinander und der Organisation zu ihren Kunden veranlagen? 

JT | Ich glaube, dass man dazu letztendlich nur einladen kann. Man kann den Rahmen dafür öffnen, damit sich Menschlichkeit in meiner Organisation ereignet.

UM | Was steckt da für eine Führungsfrage drin?

JT | Aus meiner Sicht ist eine sehr entscheidende Führungsfrage, der ich immer wieder begegne: Mit welchem Menschenbild gehe ich eigentlich jeden Tag zur Arbeit? Was für ein Menschenbild leitet mich, indem ich führe und welches Bild vom Menschen führt mich selbst? Viel wichtiger, als das, was das Menschenbild aussagt, ist die Frage: Gilt das Menschenbild für jeden, der in meiner Organisation ist, für jeden Kunden, gilt das auch nach 20 Uhr auf der Firmenveranstaltung? Wie treu bin ich diesem Menschenbild? Das ist, glaube ich, eine sehr viel wichtigere Frage als das, was dieses Bild letztendlich aussagt.

UM | Hast du eine Geschichte dazu, ein Beispiel? 

JT | Was mir immer wieder auffällt, z.B. nach Workshops zum Thema »Werte«: Gleich im Anschluss der Umgang auf der Rückfahrt im ICE mit der Bedienung im Bordrestaurant. Daran lässt sich alles ablesen. Das ist sofort deutlich. Wie wir den Raum den Putzkräften hinterlassen, nachdem wir zu Eigenverantwortung und unserem Miteinander gearbeitet haben, sagt viel mehr aus, als alles, was im Workshop inhaltlich besprochen wurde.

UM | Das hat doch auch mit Treue zu tun. Dass man seinen Ideen treu bleibt.

JT | Unbedingt! 

UM | Ich kann noch so gute Ideen haben – wenn ich sie nicht lebe, sind sie leer.

JT | Dann kann ich nicht gerade bleiben. Wenn ich die Verbindung nicht auf die Erde bringe, dann ist es nichts. Dann stelle ich die Leiter in die Wolken.

UM | Da ist ja doch überraschend viel mehr Treue in Organisationen, als ich bei meiner Frage eben gedacht habe: Es gibt das Treueverhältnis zu den Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, aber dazu kommt die Treue zu mir selbst, zu meinen Einsichten, zu dem, was ich mache. Zum Menschenbild.

JT | Ich glaube, dass wir in meiner Generation da sehr sehr sensibel sind, ob das stimmig ist. Wenn das nicht mehr in Übereinstimmung ist, dann gibt es schnell äußere oder innere Kündigungen.

UM | Noch eine Frage zum Schluss: Viele Menschen siedeln ja die Treue vor allem im persönlichen partnerschaftlichen Verhältnis, als Teil der gesuchten und gelebten Liebe an. Wie siehst du das?

JT | Auf diese Frage habe ich schon gewartet … (lacht). Für mich wird gerade im Verlauf dieses Gesprächs wichtig, dass die Treue zu mir die Voraussetzung dafür ist, dass ich auch jemand anderem Treue schenken kann. Dazu kommt mir noch der Gedanke: Treue macht leidensfähig. Das ist mir ein ganz wichtiger Aspekt, der mich auch tragen kann, wenn ich einmal den Entschluss gefasst habe, treu zu sein.

UM | Meinst du in dem Sinne: Treue heißt nicht, dass man immer zusammenbleibt – das wäre nur die Sicht von außen –, sondern dass man immer wieder aufeinander zugeht?

JT | Das geht nur in Bewegung! Und eigentlich hat man das ja auch ganz gut im Gefühl, ob das noch in Bewegung ist und die Balance zwischen der Treue zu sich selbst und der Treue zum anderen noch stimmt. Und dass man es sich eingestehen müsste, dass es nicht mehr geht und man sich dann lieber trennt. Wenn man zu lange wartet, vergeht man sich eigentlich ganz schlimm an sich selber … und am anderen auch.

UM | Vielen Dank für das Gespräch!