Vom Kampf um die Treue

AutorIn: Jürgen Franck

Eine wundersame Macht zeichnet die Treue aus. Echte Treue verbindet uns mit den guten Mächten des Daseins. So fest und stark kann sie sein, dass Tod und Teufel ihr nicht schaden können. Goethe nennt die Treue einmal »das Hauptkapital unseres Lebens«. Zugleich weist er ihr den Rang einer überirdischen Kategorie zu, indem er bekennt: »In welchen seligen Zustand versetzt uns die Treue. Sie gibt dem vorübergehenden Menschenleben eine himmlische Gewissheit; sie macht das Hauptkapital unseres Lebens aus.« Natürlich ist die Treue den Widersachern ein Dorn im Auge, und wir können sicher sein: auf nichts in der Welt sind sie so neidisch wie auf unser »Hauptkapital«. Alle Hebel werden sie in Bewegung setzen, dieses uns streitig zu machen. Bloße Ideale an sich sind ihnen bereits sehr ärgerlich. Aber wehe, wenn wir mit denselben auch noch ernst machen und sie in Treue verfolgen. Da hört’s bei ihnen auf! Nimmer werden sie ruhen, unsere Ideale zu umnebeln und zu verfälschen, um die Kraft der Treue eigenen Zielen dienstbar zu machen. Geschah solches nicht in einem unvorstellbaren Ausmaß, als im vorigen Jahrhundert der Nationalsozialismus heraufkam? Wie viel »Treue« wurde da fortwährend geschworen! Das hatte Methode, in der ganz selbstverständlich und nicht zuletzt auch die junge Generation hineingezogen wurde. 

Unvergesslich ist in diesem Zusammenhang die persönliche Schilderung einer Zeitzeugin, die intensiv dazugehört hatte, bevor sie Jahre später voll bewusst zum Christentum fand. Sie stand bereits im vollmündigen Alter, als mit dem Ende des Krieges alles zusammenbrach. In jenen Wochen macht sie eines Morgens, noch ganz fassungslos angesichts all der für sie noch unbegreiflichen Ereignisse, einen Gang durch die Gassen der Stadt Jena. Wie gedankenverloren bleibt sie vor dem Schaufenster ihres Buchhändlers stehen. Doch sie traut ihren Augen kaum: kein einziger Buchtitel grüßt heute aus dem Fester. Nur ein einziger Satz ist inmitten der gähnenden Leere zu lesen: »Die Ideale sind zerronnen«! Schiller. Ein eiskalter Schauer durchfährt die junge Frau, begleitet von einem Gemisch aus Trauer und bitterem Schuldgefühl. Sie fragt sich: Bin ich mit schuld daran, dass sich die Ideale, wie Schiller sie verstand, aufgelöst haben? Sind uns diese Ideale untreu geworden, weil wir ihnen nicht gerecht wurden? – Für einen Moment stand im Leben dieser Frau die Zeit still und machte den Seelenraum frei für ein leises Erahnen dessen, was Menschen in der Zeitenwende empfanden bei dem Ruf: »Ändert euren Sinn!« Lebenslang bleibt der Ernst dieses Augenblickes unvergessen. Aus den zerronnenen Idealen ging ein unerschrockenes Suchen und Finden hervor, das unvermindert anhielt auch nach dem Eintritt in die Christengemeinschaft. Zusammen mit dem Ehemann, einem geschätzten Kinderpsychologen, wurde eine Mitgliedschaft verwirklicht – inmitten des täglichen Druckes einer atheistischen Umwelt –, die von jenem »Treusinn« getragen war, den Novalis in seinen »Geistlichen Liedern« vor Augen hat. Erfüllt sich nicht in dem »Treusinn« des Novalis (»Wenn alle untreu werden, so bleib ich dir doch treu ...«) das »Ändert euren Sinn!« des Johannes? 

Ein Beispiel ähnlicher Art – nur in der Dramatik seines Verlaufs sehr anders –, das in dieselbe Zeit des großen Zusammenbruchs zurückgeht, schildert in einem persönlichen Brief der Chefarzt einer psychiatrischen Klinik. Als noch ganz junger Mediziner wird er am Kriegsende plötzlich vor die Aufgabe gestellt, ein Lazarett zu übernehmen. Viele Schwerverwundete gilt es zu betreuen. Rund um die Uhr ist der Pflegestab im Einsatz. Einer unter den Patienten, der selber Medizin studiert hat, befindet sich in einem besonders kritischen Zustand. Nicht nur am Leib ist er verwundet, noch zerrütteter ist die Verfassung seiner Seele. In unbeschreiblicher Hoffnungslosigkeit weiß er nicht mehr ein noch aus. Nicht allein seine Ideale sind zerronnen, sein ganzes Wesen wirkt wie erloschen. Bereits als junger Fahnenträger der damaligen Ideologie hatte er dem Christentum abgeschworen. Jegliche Treue, auch die zu sich selber, ist ihm abhandengekommen. Wie ein verlorenes Wrack auf stürmischer See treibt seine Seele dahin. Der Lazarettarzt versucht alles, um diesen Verzweifelten zu erreichen, aber kein Wort findet Resonanz. Doch was wäre Treue, die sich vom Nichterfolg beeindrucken ließe. Wieder steht er am nächsten Tag vor dem Bett des Kranken. Und wieder fühlt er sich in derselben Ohnmacht, etwas ausrichten zu können. Schon will er zum nächsten Krankenlager weitergehen, da hält er plötzlich noch einen Augenblick inne und tut etwas, an das er vorher nie gedacht hatte: In seiner Erinnerung formen sich die Worte des Credos. Von seiner Konfirmation her ist es ihm vertraut. Mit ruhiger, klarer Stimme spricht er im vollen Wortlaut den ersten Satz: »Ein allmächtiges, geistig-physisches Gotteswesen ist der Daseinsgrund der Himmel und der Erde, das väterlich seinen Geschöpfen vorangeht ...« Weit schlägt der Patient die Augen auf. Noch einmal will er den Satz hören. Und noch heller leuchtet sein Blick: »geistig-physisch« wiederholt leise der Mund. In dem Augenblick eilt der Arzt auch schon weiter. Alle Begegnungen am Krankenbett konnten immer nur kurz sein. Aber diesmal kam das rechte Wort dazu und stieß etwas an, worauf die Gedanken des Patienten schon immer gewartet hatten: die Inspiration von dem »Daseinsgrund«, der geistig-physischer Beschaffenheit ist – väterlich vorangehend in ununterbrochener Treue! Dieses hatte für den Kranken eine so heilsame Wirkung, dass es dort im Lazarett von allen bemerkt wurde – und leise das Wort »Wunder« die Runde machte. Tatsächlich, so schrieb der Arzt in dem Brief, brachte die Begegnung am Krankenbett eine Wende, die für den betreffenden Menschen nicht nur vorübergehend war, sondern sein ganzes Leben verändert hat. Was er fand, war eine ganz neue bleibende Treue zu sich selbst, die im Erleben der Treue des allmächtigen Daseinsgrundes ihren Anfang, ihr »initium« empfangen hatte. 

Darin liegt das Merkmal einer »Initiation«: sie beginnt mit dem Wachwerden in einer Wesenstiefe, die vorher geschlafen hat. Das griechische Wort für Schlaf ist »hypnos«, wovon »Hypnose« abgeleitet ist. 

Bei der furchtbaren geistigen Verfinsterung in den Jahren des faschistischen Regimes muss eine Art »Massenhypnose« mit im Spiel gewesen sein. Sonst wäre nicht so viel Treue laut geschworen und andererseits so viel niederträchtige Treulosigkeit dem geistig-physischen Menschentum gegenüber praktiziert worden. Doch umso leuchtender ragt das verborgene Positive dieser umkämpften Zeit heraus, in der den schärfsten Widerständen von außen durch unsagbare innere Treue Werte entrungen wurden, die bleibend Zeugnis ablegen vom Hauptkapital des Lebens. Stellvertretend für viele Namen, die in diesem Zusammenhange genannt werden müssten, sei hier an Ernst Barlach erinnert. Er war den Machthabern damals ein großer Dorn im Auge. Während einer Rundfunksendung wollte man ihm einmal eine Falle stellen durch die hinterhältige Frage, wie er denn zur Rassenfrage stehe. »Ich kenne nur zwei Rassen: die Geistigen und die Ungeistigen«, war seine Antwort. In ihr schwingt im Grunde unterschwellig – »simultan« – mit: die Treuen und die Untreuen. Durch das gesamte Werk Barlachs zieht sich wie ein roter Faden das Bekenntnis einer ununterbrochenen Treue hindurch, der Treue zum Menschen und seiner Tendenz zum Ewigen hin! Wie das in dem Bühnenstück »Der tote Tag« dem blinden Kule so bewegend aufgeht: »Es hat Menschen gegeben und wird wieder welche geben, welche mit dem Hauch ihres Mundes sprechen können zu einem Gott: Vater! Und dürfen den Ton in ihren Ohren hören: Sohn!« Hörbar wird in diesem Wort ein »Etwas«, das gleicherweise sichtbar wird an jeder einzelnen Gestalt Barlachs, z. B. im »Fries der Lauschenden«. Und dieses »Etwas« ist die Treue. Gleich dem Ich des Menschen ist die Treue immer etwas Individuelles, nie etwas Schematisch-Einförmiges. Tief enttäuscht reagierte Barlach, als einmal ein Drama von ihm psychoanalytisch auseinandergenommen wurde. Das schmerzte ihn. Der Quell seines Schaffens, so schrieb er sinngemäß an einen Arzt, sei oben zu suchen, und er fährt wörtlich in dem Brief fort: »Etwas Fremdes, doch Verwandtes ist mein eigentliches Ich. Möglicherweise ein Göttliches über mir ... Ich will es getrost so ausdrücken: Ich bin allewege zu viel Mystiker, ahnungsvolles Subjekt ... ich rechne meine Abstammung nicht von hinten, von rückwärts, sondern von vorn, von oben her« (an Julius Cohen, April 1916). 

Wir spüren bei diesen Worten Barlachs, dass er sich nicht als ein »Fertiger«, ein Vollkommener erlebt, sondern als ein Werdender. Dazu erzieht echte Treue. Sie bewahrt vor dem Nicht-warten-Können, eben auch vor der Illusion, man sei schon am Ziel. Selbst die Engel sind da keine Ausnahme. Werfen wir noch einen Blick auf Barlachs »Geistkämpfer«! Mit welch einer Treue und aktiven Beständigkeit hat dieser, stehend auf dem gefährlichen Panther, seinen »Posten« eingenommen. Er wendet den wachenden Blick abwärts, dicht an dem Tier vorbei. Die Spitze seines Schwertes weist zugleich kerzengerade nach oben, während beide Hände den Schwertknauf fest umklammern. Wehe, wenn der Engel diesem Platz untreu würde. Durch sein treues Wachen und Stehen ist die Angriffsgefahr des unberechenbaren Panthers gebannt. Was für eine starke Macht ist die Treue des Engels! Die Schwertspitze weist nach oben. Er weiß sich im höheren Dienst für die Menschheit. 

Aber nun der Mensch selber ... Was ist die Treue des Menschen eigentlich? Das lässt sich im Grunde kaum definieren. Es wirkt in ihr immer auch ein Übersinnliches, Unfassbares – und ein Zartes und Mächtiges zugleich. Man kann die Treue nicht töten, nicht betrügen, nicht lächerlich machen. Dazu ist sie ein viel zu unantastbar Heiliges! 

Als einst Kaspar Hauser am zweiten Pfingsttag 1828 in Nürnberg auftauchte, blieb es kaum jemandem verborgen, wie sehr dieser Mensch in seiner Vernehmungsfähigkeit mitleiderweckend beeinträchtigt war, im Bewegen, im Sprechen, im geläufigen Denken. Durch das Martyrium grausamer Gefangenschaft waren diese Fähigkeiten verstümmelt und verhindert worden. Aber es gab etwas an diesem Menschen, das seine Peiniger nicht entstellen konnten. Und das war die Treue. Ja, das war, um es paulinisch auszudrücken, der »Christus in ihm«, ihn konnten sie nicht töten. Dieses war das Unantastbare, was aus seinem gemarterten Wesen hervorleuchtete, aus seinem »schuldlosen Blick«, aus seiner »Sanftmut«, aus seinem »unbefleckten Inneren«. So beschreibt es Jakob Friedrich Binder, der Bürgermeister. Gegen Schluss seiner »Bekanntmachung« über Kaspar Hauser heißt es: »Sein reiner, offener schuldloser Blick dagegen ..., seine unbeschreibliche Sanftmut, seine alle seine Umgebungen anziehende Herzlichkeit und Gutmütigkeit, ... sein ganzes kindliches Wesen und sein reines unbeflecktes Innere – diese wichtigen Erscheinungen zusammen geben ... die volle Überzeugung, dass die Natur ihn mit den herrlichsten Anlagen des Geistes, Gemüts und Herzens reich ausgestattet hat!« 

Es gibt eine tiefste Verwandtschaft, ja Identität zwischen der menschlichen Treue und dem Wesen Christi. Die Treue ist ein das gesamte Menschwesen Übergreifendes. – Vielleicht wird die Treue einmal das europäische Jahrtausend-Thema werden? Dazu ist es an der Zeit! Denn nichts steht heute in so ernster Bedrohung wie sie. Das muss uns nicht verwundern. Denn die Treue ist nun mal »das Hauptkapital unseres Lebens« und die große Hoffnung der geistigen Welt!