Zeit und Raum in der Ewigkeit

AutorIn: Zeit und Raum in der Ewigkeit Rolf Herzog

Zwischen dem ersten und letzten Atemzug sind die menschlichen Erdenwege geprägt von zeitlichen Abläufen mit einem Nacheinander sowie einem räumlichen Nebeneinander. Die messbare Zeit und die Gesetzmäßigkeit des Räumlichen geben uns die in der äußeren Welt nötige Struktur und Ordnung.

Vor der Geburt und nach dem Tod leben wir in einer Welt ohne die Materie, ohne den Wechsel von Tag und Nacht durch Sonnenauf- und Sonnenuntergänge. Von ihr berichten Menschen, die durch besondere Schicksalsumstände einen Vorblick hatten in diese sehr anderen Verhältnisse – sogenannte klinisch Tote, die durch ärztliche Hilfe wieder zurückkamen, oder andere nach Unglücksfällen. Durch ein Kreislaufversagen in jungen Jahren lernte ich das auch kennen. Dabei ist man aus der messbaren Zeit heraus, hat alle Ereignisse des vergangenen Lebens als Panorama um sich, in wesenhaft sich offenbarendem Licht und Bewegungen. Vom Moment der Geburt bis zum Tod ist alles Zeitliche in jeder Einzelheit räumlich gegenwärtig, sich durchdringend und dabei immer ganz geordnet, differenziert, in einem bewegten, gegenwärtigen Sein. Was im Irdischen nur als Nacheinander möglich ist, ist dort ein Miteinander. Je nachdem, wohin sich die Seelenaugen wenden, kommt etwas mehr hervor, anderes tritt zurück, ist aber gleichermaßen anwesend. Die Zeit, die zeitlichen Abläufe, sind zum Raum geworden.

 

Anhand von Schilderungen Rudolf Steiners in den Vorträgen Die Evolution vom Gesichtspunkte des Wahrhaftigen1 kann das verständlich werden. Er beschreibt, wie in einer kosmischen Vorstufe unserer heutigen Welten, dem alten Saturn, aus der Urgebärde eines Opfers, das die Throne, die Geister des Willens, den Cherubim, den Geistern der Weisheit, bringen, die Zeit geboren wird – allerdings nicht als abstrakt Messbares, sondern als hierarchische Wesen, als Archai oder Geister der Persönlichkeit. Als eigene Hierarchie, in der noch raumlosen Ewigkeit, in der es kein früher oder später gibt, werden sie aus der Opfergebärde geboren. In ihrem Ursprung ist Zeit also die Gegenwart von geistigen Wesenheiten.

Der Raum kommt dann hinzu in einer nächsten Entwicklungsstufe, auf der alten Sonne. Durch die schenkende Tugend der Cherubim wird er geboren, ebenfalls als eine Gruppe hierarchischer Wesen, als Archangeloi, Erzengel oder Boten des Anfangs, durch die das Licht entsteht. Das Räumliche differenziert sich noch nicht als oben/unten, links/rechts, sondern als Äußeres und Inneres.

 

Diese vom Irdischen her ganz anderen Gegebenheiten prägen also die Wege der Menschen, die jenseits der Schwellen von Geburt und Tod ihre Lebenswege gehen, im Sein der Ewigkeit. Nach ihr suchen wir, mehr oder weniger bewusst, in den Momenten, in denen wir das Bedürfnis nach Ruhe haben, dem Zeitdruck entfliehen möchten. Stress nennt man das heute, den wir uns oft selber schaffen, wenn wir sagen: »ich muss noch schnell«, oder »ich habe keine Zeit.« Dabei ist immer das Ich des Menschen in Gefahr. Um sich zu entwickeln, braucht es innere Ruhe, Momente, in denen wir uns herauslösen aus dem Alltagsgeschehen, in denen wir durch bewusste Hinwendung die Welten der wesenhaften Zeit, des wesenhaften Raumes suchen, »unser Urständen im Geiste«, wie es in der Menschenweihehandlung genannt wird. Mit einem Gebet, einer Meditation können wir das üben. In ihnen klingt die Ruhe des Seelenseins, das Licht der Geisteswelt an, in die wir einen Verstorbenen begleiten, wie es in unserem Bestattungsritual ausgesprochen ist.

Alle die vorher erwähnten Berichte von Rückschauerlebnissen lassen sich darin vergleichen, dass sie von diesen Qualitäten geprägt sind. Jeder Einzelne fühlt sich ganz unmittelbar diesem Raum des zeitlosen Seins, dem Licht der Geisteswelt zugehörig. Es ist die innere Ebene, in der wir mit den Verstorbenen verbunden bleiben. Wie ihre weiteren Wege sind, beschreibt Rudolf Steiner in seinem Buch Theosophie,2 oder man findet es dargestellt bei Arie Boogert Der Weg der Seele nach der Tod.3 Sie wandern durch die sieben Planetensphären, die auch in den sieben Wochentagen anklingen. Unterschiedlich lange weilen sie darin, wobei diese zeitlichen Angaben mehr für unsere Erdenverhältnisse Anhaltspunkte sind, um eine Vorstellung davon zu haben. Für die menschliche Seele sind das Entwicklungsschritte innerhalb der Welt, in der alles Wandlungs- und Werdeprozess ist.

 

In der griechischen Sprache findet man noch etwas von den unterschiedlichen Qualitäten der Zeit durch drei Worte. Mit chronos bezeichnet sie die Zeitlichkeit in den Erdenverhältnissen, Dauer, Zeitabschnitt, Lebensdauer. Mit kairos die überzeitliche Dauer, die Qualität einer Stunde, den rechten Augenblick, auch den rechten Ort (räumlich). Mit aion den Zeitraum, die Ewigkeit als zeitloses Sein, den Weltlauf, das Werden im Geiste. Die Zeitenkreise, von denen in der Menschenweihehandlung gesprochen wird, gehören wohl zu diesem Wort.

Vielleicht erhellt sich des Rätsels Lösung auf die Frage, wo die Verstorbenen in Bezug auf Zeit und Raum leben, in den für Sprachgestalter wichtigen Worten:

In den unermeßlich weiten Räumen,

In den endenlosen Zeiten,

In der Menschenseele Tiefen,

In der Weltenoffenbarung:

Suche des großen Rätsels Lösung.4

Es ist eine Atemübung, mit der man versuchen kann, die tönende Luft zu hören, sie als Wesenheit zu erkennen, sich zu Erheben in die Welten des Überzeitlichen, Unbegrenzten, in denen die Verstorbenen leben.            

 

1  GA 132, 31.10. und 7.11. 1911

2  GA 9

3  Verlag Urachhaus

4  Rudolf Steiner: Methodik und Wesen der Sprachgestaltung, GA 280, S. 52