Scheu

AutorIn: Anna Hofer

Niemand kann Ihnen sagen, was Ihnen wichtig ist. Das wissen nur Sie. Aber wie Sie das Wichtige betrachten, wie Sie es anfassen, wie Sie damit umgehen, das hat im Grunde zu tun mit einer Scheu. Einer guten, berechtigten Scheu. Gerade weil das, was Ihnen so wichtig ist, nicht einfach irgendwie zu behandeln ist. Mit einem wertvollen Schatz – sei es ein Buch, ein Geschenk, ein Bild, ein Wort, ein Mensch, ein Gedanke – gehen wir behutsam und vorsichtig um. So viel mehr legen wir hinein in den Gegenstand oder in die Idee, als es äußerlich in seiner Erscheinung oder in einer Erklärung überhaupt vorhanden sein kann. Und dieses Mehr keinesfalls zu zerstören, das ist eine Empfindung, die wir oft so bezeichnen: das ist mir heilig. Aber es könnte nichts heilig sein, fühlten wir nicht eine Scheu. Nun, das ist eine Behauptung.

 

Es ist auch eine Behauptung, dass das scheue Kind schüchtern sei. Was, wenn das scheue Kind die Gewissheit hat, dass es etwas viel Größeres gibt, dass es mit jedem Schritt und jeder Bewegung so vieles zerstören könnte? Vielleicht schaut es beim Spielen nicht in die Karten, weil das Glück und der Zufall die Mitspieler sein sollen, nicht die Taktik. Und wenn man zu früh in die Karten schaut, können sich diese nicht mehr in ein gutes Blatt verwandeln. Und sie werden sich manchmal richten und manchmal nicht, aber man muss ganz vorsichtig sein. Zurückhaltend. Ehrfürchtig. Damit die Dinge ihren Lauf nehmen, damit die Weltenweisheit arbeiten kann. Dabei ist es nur ein Kartenspiel. Aber es könnte auch ein Mensch sein. Ein Mensch, der das ganze Vertrauen des Kindes nur durch dessen Zurückhaltung geschenkt bekommt. Solch einen Menschen habe ich als Kind nicht mehr begrüßen oder verabschieden können. Überhaupt war das Reden schwer. Meine Scheu war viel zu groß. Jedes Wort wäre nicht annähernd gut genug gewesen, jedes Wort hätte nur die Größe des Augenblicks zerstört. Es ging nicht darum, dass ich zu klein war, aber ich wollte die Größe des anderen nicht mit banalen Worten festlegen. Dafür hingegen die richtigen Worte zu finden, dafür war ich zu klein. Ich war also ein sehr scheues Kind. Nicht schüchtern, nur scheu.

 

Heute denke ich darüber nach und bemerke eine solche Haltung bei vielen Menschen. Und nun komme ich auf den Anfang zurück: Niemand kann sagen, was Ihnen wichtig ist, aber die Art wie Sie es behandeln, kommt im Grunde aus einer Scheu. Die Scheu kann nämlich nur sein, weil wir von uns selbst wissen, aber vor allem weil wir wissen: Es gibt noch ein so viel Größeres als das Selbst. Und dieses Größere ist so wichtig, es ist so zart, es ist beinahe nicht. Nur die Scheu kann damit angemessen umgehen. Sie kann uns dazu erziehen, die Hände zu waschen bevor wir ein Buch ergreifen. Sie hilft im richtigen Moment zu schweigen. Sie ermöglicht das Wachsen der Ideen. Sie ist eine Maria. Sie empfängt und behütet.

 

Wir sind alle scheu. Nicht schüchtern, nur scheu. Und sollten Sie die Scheu bei einem Menschen nicht entdecken, dann achten Sie auf die Art und Weise, wie derjenige sein Wichtigstes behandelt. Es mag nichts Großes sein, es mag vielleicht etwas ganz Banales sein, aber es ist seine Kathedrale. Und die Scheu, nun, sie ist der Eintritt. Sie ist die Schwelle zwischen innen und außen, zwischen dem Menschen und der geistigen Welt. Zwischen mir und dir. Ich und du.