Durch den Tod verwandelt

AutorIn: Karl Schultz

er Tod ist ein Sakrament, das der Einzelne mit sich selbst vollziehen muss«, so oder so ähnlich hat es Ernst Jünger ausgedrückt und Tom Tritschel in seinem Vortrag am 9. April 2019 über die sieben kultischen Schritte des Sterbens ausgeführt. Das führt mich zu der lapidaren Feststellung, dass der Tod eine zum Leben gehörende Wirklichkeit ist. Jeder Mensch erfährt früher oder später diese Wirklichkeit ganz einmalig und unverwechselbar und muss ebenso ganz individuell damit umgehen. Das Grauen vor dem Tode und der Protest gegen seine unentrinnbare Macht ist ein ebenso allgemein menschliches Phänomen wie der unaustilgbare Glaube an ein irgendwie geartetes Weiterleben über den Tod hinaus. Der Tod ist der große Schrecken und die offene oder heimliche Todesfurcht eine ständige Bedrohung menschlicher Würde und Freiheit. Jede Versachlichung oder Verharmlosung des Todes wäre unangemessen oder gar ein tiefer Selbstbetrug des Menschen. Denn was der christliche Glaube über den Tod zu sagen hat, hat eben nichts zu schaffen mit irgendeiner Verharmlosung oder Versachlichung des Todes. Er denkt nicht daran, sich mit dem Sterben-Müssen einfach abzufinden. Er verwahrt sich gegen jede seelische Plumpheit oder Rohheit, die uns gegen den Tod, gegen die grauenhafte Steigerung tödlicher Unfälle, gegen die brutale Vernichtung fremden oder eigenen Lebens abstumpft. Er erlaubt uns nicht, von dem Sterben eines Menschen so zu reden, wie man von dem Verenden eines Tieres redet, und er erlaubt ebenso wenig, den apokalyptischen, das heißt den die letzte Not enthüllenden Ernst des Todes mit dem Nebel der Sentimentalität zu verhüllen. Wie sehr hat sich die Sentimentalität als der Ersatz echter Gemütsbewegung an den Gräbern breitgemacht, und wie sehr hat die Kirche die Frage nach dem Tod und den Toten den zuchtlosen Phantasien aller möglichen »Sekten« überlassen. Auch die stoische Ruhe, die unbewegte und unerschütterte Seelenruhe angesichts des Todes ist eher eine Gefahr als ein Ideal, weil der Mensch, der sich Leiden und Trauer, Schrecken und Angst ersparen will, damit zugleich unfähig, ja steril wird für die höchsten Erhebungen und Erfahrungen der Seele. Was der christliche Glaube über den Tod zu sagen hat, lese ich als katholischer Priester – das heißt als Seelsorger, Theologe und glaubender Christ – zum Beispiel aus der Perikope (Johannes 11,1–44) heraus. Als Seelsorger habe ich es ja oft mit Angehörigen zu tun, die um einen  Menschen, der gestorben ist, trauern und stehe mit ihnen am offenen Grab. Der Tod ist zwar ein Sakrament, das der Einzelne mit sich selbst vollziehen muss – ja ganz gewiss! –, aber es haben doch weitere Menschen unmittelbar damit zu tun. Trauer und Schmerz, Abschied und Verlust gehören zum Tod. Als Jesus sah, wie sie weinten, Martha, Maria und die anderen, war er im Innersten und unter Tränen erregt und erschüttert. Er sagte: Wo habt ihr ihn bestattet? Sie antworteten ihm: Herr, komm und sieh! Da weinte Jesus. Die Juden sagten: Seht, wie lieb er ihn hatte (V. 33ff.). Jesus begegnet dem Tod von Lazarus und den Trauernden nicht ohne Empathie. Wie oft sehen wir Bilder des Todes oder stehen an Gräbern? Die Trauer hat Orte und braucht Zeit. Jesus weicht Ort und Zeit der Trauer nicht aus. Er nimmt die Trauer ernst und lässt sie zu. Er tadelt uns nicht etwa deswegen, weil wir den Tod, das vermeintliche Todesschicksal als eine harte und unerbittliche Erfahrung so ernst nehmen. Allerdings will Jesus, dass wir nun nicht einer »heidnischen Trauer« verfallen, das heißt einer Trauer, die darum maßlos ist, weil sie eben nicht durch die Hoffnung und den Glauben und die Liebe begrenzt ist. Die maßlose Trauer ist eine Trauer, die sich nicht lösen kann und nicht lösen will von dem, was vergangen ist. Die Angst ist sozusagen die maßlose Trauer in dem Blick nach vorne, weil eben der Tod, wenn er die letzte und endgültige Grenze ist, keinen Blick nach vorne mehr frei lässt. Wie sehr kennen wir diese maßlose Trauer, das Widerspiel jener herzlosen Sachlichkeit, die über den Tod resigniert! Stecken nicht hinter den vielen Formen der Angst und der Lähmung im Grunde diese Trauer derer, die keine Hoffnung mehr haben, also eine Überschätzung des Todes, als ob er das letzte Wort zu sagen hätte? Wir müssen »nach der Zeit« unsere Trauer auch wieder loslassen, sie nicht als Besitz, als letzten Genuss behalten wollen. Das ist nämlich die heimliche Verführung der Schwermut: festhalten wollen, sich in der Traurigkeit gefallen, nicht eingehen in das Sterben und Auferstehen mit Christus. Und damit habe ich theologisch das Thema berührt, worum es geht: »Lazarus – Durch den Tod verwandelt«. Es gibt kein Leben ohne Tod; kein Ostern ohne Karfreitag; kein Auferstehen ohne Sterben. Insofern dürfen wir den Tod als einen Durchgang verstehen, nicht nur als Überschreitung der Grenze zwischen Leben und Tod, sondern als ein Durchgang zu einem anderen und neuen Leben. Eben dies nennen wir Auferstehung der Toten. Das Wort von der Auferstehung der Toten würde dann sicher missverstanden, wenn wir dieses erwartete neue Leben nicht zugleich als etwas Gegenwärtiges erfahren könnten. Die Todesgrenze verläuft mitten durch unser irdisches Leben hindurch. Es hat immer wieder Menschen gegeben, die »zurückgekommen« sind und von ihren Erfahrungen auf der sogenannten »Todesgrenze« berichteten. Gelegentlich wurden sie als Scheintote bezeichnet. Auch von Jesus wurde Ähnliches gesagt: er sei nicht wirklich gestorben, sondern nur aus dem Scheintod ins Leben zurückgekehrt. Ich möchte das nicht vertiefen, sondern nur darauf aufmerksam machen, dass die Bibel sich nicht so sehr für Scheintote interessiert, sie interessiert sich umso mehr für Scheinlebendige, die zum wahren Leben erst erweckt werden müssen. »Auch Auferstehung bricht nicht an nach unser’m Tode irgendwann und ohne unser Handeln. Es kann und will und muß gescheh’n, dass wir im Leben aufersteh’n, uns Schritt um Schritt verwandeln«, heißt es in einer Kantate der neuen geistlichen Musik. Wir sehen Grabtücher und Verwesung, wir spüren die Macht des Todes über Leiber und Seelen, genau in der Begegnung mit dieser Wirklichkeit muss sich unser Glaube bewähren. Auferstehung und ewiges Leben ist nicht ein blasser, tröstlicher Sehnsuchtsschimmer am Ende oder am Rande unserer Erdentage. Auferstehung ist Verwandlung, Verwandlung ist Gegenwart! Am offenen Grab von Lazarus hat es der Herr in die Menschheit gerufen: Ich bin die Auferstehung und das Leben Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt (Joh 11, 25). Er steht vor der Trostlosigkeit des Grabes und ruft aus dem Tode heraus, mit der gleichen Vollmacht, mit der der Schöpfer die Welt aus dem Nichts herausgerufen hat. Wer also an die Todeswirklichkeit der Sünde und des Vergehens allein glaubt, wer sozusagen sich daran bindet, bleibt ihr auch verfallen und liegt gefesselt unter dem Stein. Davon reden die letzten Verse unserer Perikope (Joh 11, 39–44): Wir sind Gebundene und Gefangene unserer Zeit, auch das vollzieht der Einzelne. Gräber und Ängste und Schuld binden uns und halten uns gefangen. Jesus rief mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! Da kam der Verstorbene heraus; Füße und Hände waren mit Binden umwickelt und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch verhüllt. Jesus sagte zu ihnen: Löst ihm die Binden und lasst ihn weggehen! Gott holt uns heraus aus unseren Gräbern, aus unseren Ängsten, aus unserer Schuld, Er ent-bindet uns. Wer daran glaubt, dem ist der Anblick des Grabes und des Todes, der Vergänglichkeit und der Vergangenheit verwandelt in den Anblick des Lebens, der Gegenwart, der Zukunft, die für ihn schon angebrochen ist! »Der Tod ist ein Sakrament, das der Einzelne mit sich selbst vollziehen muss.« Die Verwandlung ist eine Gnade, die der Einzelne erfahren darf. Gnade aber kann nicht bedeuten, dass ich mein Schicksal ohne eigenen Willen erfahren oder ertragen könnte oder müsste. Lazarus – Durch den Tod verwandelt. Lazarus, das bin ich, das bist du!