Erweckung des Denkens aus der Andacht | 100 Jahre Die Sonntagshandlung für die Kinder

AutorIn: Dieter Hornemann

Als Christian Morgenstern am 31. März 1914 gestorben war und seinen Weg in die geistige Welt begann, führte ihn dieser durch die verschiedensten Regionen. Seine Schwungkraft und Begeisterung und dass er schon lange Jahre vor seinem Sterben im Geiste gelebt hatte, ließen ihn schnell die Schatten der Erde durchwandern. Er war ja auch durchdrungen davon, dass er »einen Pfad«1 gefunden hatte und dass er eine für die Zukunft wichtigste Botschaft von der Erde mitbrachte.

Seinen Freund Rudolf Steiner hatte er bei dessen Vorträgen »Christus und die geistige Welt – auf der Suche nach dem heiligen Gral« um die Jahreswende 1913/14 zum letzten Mal in Leipzig gesehen. Nach dem letzten Vortrag war Rudolf Steiner durch den ganzen Saal zu dem in der letzten Reihe in Decken gehüllten, schwer kranken Dichter geeilt und hatte ihn umarmt. Das war ihre letzte Begegnung gewesen. Das Werk seines Freundes, die Anthroposophie, hatte Christian Morgenstern tief in sein Herz aufgenommen und in vielen Dichtungen verarbeitet. Wie er nun in den geistigen Reichen erschien, war die in seiner Seele lebendig gewordene Anthroposophie wie ein aufgehender Morgenstern, der von vielen dort weilenden Seelen wahrgenommen wurde. So auch von den in einem besonderen Bereich wohnenden großen Idealisten Fichte, Hegel, Schleiermacher, Schelling und manchen anderen. Wie sie dies helle Gestirn aufgehen sahen und erkannten, welcher Segen davon für die Menschheit der Zukunft ausgehen wird, fassten sie den Beschluss, auch selber etwas für das große Werk beizutragen.

Ganz besonders der willensstarke Johann Gottlieb Fichte begeisterte sich für das, was er da schaute. Er ergriff die Initiative, und verbunden mit den anderen erschufen sie etwas, das es noch nie zuvor in der Welt gegeben hatte: einen Kultus für Kinder. So entstand das, was wir Die Sonntagshandlung für die Kinder nennen und was im Februar 1920 in der Waldorfschule Stuttgart zum ersten Mal gefeiert wurde. Wenn wir die Worte dieser Sonntagsfeier erlauschen, können wir unschwer diesen ihren Ursprung empfinden. Als zwei Jahre später die Christengemeinschaft ihre Arbeit aufnahm, hat sie aus Rudolf Steiners Hand die Rituale empfangen, die schon vor ihrer Gründung entstanden waren – darunter auch die Sonntagshandlung für die Kinder.

Wenn wir uns das Ritual ein wenig näher anschauen, können wir unschwer erkennen, dass in dieser Handlung aus der Andacht heraus das Denken erweckt wird. Die Handlung beginnt mit den Worten: »Wir erheben jetzt die Gedanken und Empfindungen zu dem Geiste ...«, sie endet mit den Worten »... behaltet in guten Gedanken, was ihr hier gehört, empfunden, gedacht habt.« Es geht um die Erweckung des Denkens. Die Erweckung eines solchen Denkens, das aus dem Staunen und der Ehrfurcht heraus die Welt immer tiefer verstehen lernt und die Bereitschaft immer mehr wachsen lässt, in der Welt aus der Liebe für ihre Zukunft zu arbeiten. Wer die Freude hat, die Sonntagshandlung halten oder als Ministrant begleiten zu dürfen, der kann es den Kindern auch ansehen, wie sie im Laufe der Jahre dabei immer mehr zu Mitdenkenden werden.

Die Sonntagshandlung für die Kinder hat nun schon hundert Jahre in unserer Christengemeinschaft, in den Waldorfschulen und heilpädagogischen Einrichtungen ihre segensreiche Wirkung entfaltet. Sie war äußerlich dadurch zustande gekommen, dass in der ersten Waldorfschule – auf die Initiative einiger Eltern hin, die keiner Kirche angehörten – ein frei-christlicher Religionsunterricht begonnen hatte. Als dieser Unterricht schon ein paar Monate gegeben wurde, entstand der Wunsch, auch für den Sonntag eine Feier, entsprechend dem christlichen Gottesdienst zu haben. Als diese Bitte an Rudolf Steiner herangetragen wurde, schrieb er das Ritual der Sonntagshandlung für die Kinder, das dann am Sonntag, den 8. Februar 1920 zum ersten Mal vollzogen wurde.

Zum Schluss noch zwei Erfahrungen: Eine Dame aus dem Stuttgarter Rotlichtmilieu lag im Krankenhaus im Sterben. Ein Arzt fragte sie, ob er einen Priester holen solle. Die Dame wehrte ab, besann sich dann aber und sagte: Wenn Sie einen finden, in dessen Kirche die Kinder sagen »Ich will Ihn suchen«, dann können sie ihn bitten, zu kommen. Sie war als Kind einmal in die Christengemeinschaft mitgenommen worden und hatte das nicht vergessen. Der Arzt kannte sich aus und holte den Priester Johannes Lenz. Als ich noch in Stuttgart wohnte, war mein Nachbar der damalige Chef der Firma Bosch. Er war bekannt durch seine profunde Bildung, ein Kenner der Philosophie und ein Fachmann für moderne Literatur. Bei einem gemeinsamen Spaziergang erzählte er mir, dass eine Tante ihn einmal als Kind mit zur Christengemeinschaft genommen habe. Und da habe er auch einmal in seinem Leben »Ich will Ihn suchen« gesagt. Und er betonte, wie ihm das ganz unvergesslich geblieben ist.

 

1  Christian Morgenstern: Wir fanden einen Pfad, Basel 2014; Erstausgabe des Gedichtbandes: 1914