Sind wir bald da?

AutorIn: Tom Ravetz

Als Kinder müssen wir die Eltern mit unserer Frage geplagt haben: Sind wir bald da? Der schöne Urlaub war so nah, dass die Zeit der Reise uns unzumutbar erschien. Die Ungeduld bezog sich aber auch darauf, dass das Ziel nicht wirklich sicher war, bis wir angekommen waren. Sah der Campingplatz so aus wie letztes Jahr? Wollte das Wetter freundlich sein? 

Im Erwachsenenleben so wie in der Seelsorge habe ich bemerkt, dass wir manchmal gerne das Ende unserer seelischen Reisen herbeisehnen. In einer Krisenzeit etwa meinen wir, dass die Tatsache, dass wir schon gut orientiert sind, weil wir das Buch über die Lebenskrisen gelesen haben, dafür sorgen soll, dass wir gut ausgerüstet sind und damit gleich am Ende des Prozesses sein werden. Doch gehört es zur echten Krise, dass sie nicht nach Plan geht. Gerade die Augenblicke, in denen wir die Fassung verlieren und alle Vorstellungen aufgeben, bahnen der Zukunft den Weg.

Vor einigen Jahren erschien das Buch »Jesus nochmal zum ersten Mal begegnen«. Wie anders würden wir das Evangelium in der Passionszeit hören, wenn wir keine Ahnung hätten, wie die Geschichte endet? Wenn wir versuchen, es so zu lesen, merken wir, wie wir sonst Gefahr laufen, das ganze Heilsgeschehen zu einer Art göttlichen Uhrenwerk zu machen: Sündenfall: Verstrickung in die Materie; Christi Tod: Errettung des Menschen. Alles kann weitergehen. Wir tun aber gut daran, uns einen Augenblick vorzustellen, dass der Ausgang der Geschichte nicht gesichert war – dass das stille Warten auf Erden am Karsamstag auch in der himmlischen Welt einen Gegenpart gehabt hätte. Christi Auseinandersetzung mit den Kräften der Auflösung und des Todes war eine reale, die auch hätte scheitern können. Wenn unsere Seele sich gegen eine solche Möglichkeit auflehnt, können wir den Petrus besser verstehen, der gleich am Anfang des Weges, der den Christus nach Jerusalem in die Passion führen wird sich vehement gegen die Perspektive ausspricht, dass der Weg in eine solche Ungewissheit führen wird (Mk 8,31-33). Nachklänge dieser Einstellung sind überall im Evangelium zu finden. Die beiden Jünger, die zu Emmaus das Mahl mit dem Auferstandenen teilen, beklagen sich, dass der, von dem sie meinten, er würde Israel erretten, ihnen weggenommen worden ist. Sogar Judas können wir in diesem Licht verstehen: Wollte seine ungeduldige Seele durch die Übergabe Jesu an die staatliche Macht ihn zur Gewalt provozieren, die ein positives Ergebnis hätte bewirken können? Das ist eine erschütternde Vorstellung. Die Ungeduld einer Menschenseele kann dazu verführen, den Herrn preiszugeben! So gesehen, kann ich leicht den inneren Judas finden. 

In den letzten Jahren durfte ich einen Menschen begleiten, der mit einer chronischen Krankheit zu ringen hatte. Das bringt die Herausforderung, eine zarte Mitte zu finden. Es ist natürlich wichtig, die Hoffnung nicht aufzugeben, nicht zu resignieren. Doch kann die Hoffnung leicht zur Erwartung degenerieren. Dann tun wir der Wirklichkeit durch unsere festen Vorstellungen Gewalt an und bereiten nur die nächste Enttäuschung vor. Auf der anderen Seite, wenn die Geduld zur Verzweiflung wird, verschließen wir uns vor dem Geheimnis des Lebens und vor der Möglichkeit eines neuen Wunders. Auf beiden Seiten liegt eine perverse Sicherheit, die mich vor der Ungewissheit des Lebens schützt. Die Fantasie-Vorstellung enthebt mich der bitteren Wirklichkeit des Alltags, solange ich sie aufrechterhalten kann. Die Gewissheit, dass es keine Hoffnung gibt, bedeutet, dass ich keine Angst haben muss, weiter enttäuscht zu werden. 

Diese zarte Kraft der Mitte zwischen diesen beiden Extremen wächst durch Übung. In diesem Sinne gibt es eine geheimnisvolle Aussage, die in verschiedenen Varianten in jedem Evangelium vorkommt (bei Matthäus sogar zweimal): 

Die das Leben ihrer Seele (ψυχὴν) finden, sie werden es verlieren; die das Leben ihrer Seele verlieren um meinetwillen, sie werden es finden. (Mt 10,39; vgl. Mt 16,25, Mk 8,35, Lk 9,24, Joh 12,25)

Eine Aussage wie diese will nicht nur verstanden, sondern in meiner Seele verwirklicht werden. Das geht sehr gut in Anwendung der Lectio Divina, einer Art, inhaltsvoll biblische Worte zu verinnerlichen, die ursprünglich auf Origenes (ca. 184 – ca. 253) zurückgeht. Im ersten Schritt liest man die Worte viermal laut vor. Dann versucht man sie mit allen Kräften der Seele zu durchdringen. Habe ich sie verstanden? Kann ich mich an Ereignisse im eigenen Leben erinnern, die mit ihnen zu tun hatten? Gibt es Bezüge zu anderen Stellen im Evangelium oder zu anderen wichtigen Schriften oder in der Weltliteratur? Ich könnte z.B. die Geschichte des verlorenen Sohnes heranziehen (Lk 15) oder auch die des reichen Jünglings (Mk 10,17-27). Auch der Werdegang Pierres in Tolstois »Krieg und Frieden« stellt etwas von diesem Geheimnis dar. Im dritten Schritt lasse ich all das, womit ich mich beschäftigt habe, eine Schicht tiefer sinken. Wie betreffen mich diese Worte persönlich? Was würde ich gerne loslassen, was ich noch nicht kann? Solche Fragen leiten oft in eine Gebetsstimmung über, in der ich um die Kraft bitte, die Worte zu erfüllen. Zum Schluss, als vierten Schritt, lasse ich alles verklingen: die Worte, die Gedanken und Vorstellungen, auch die Gefühle und die Bitte, die entstanden ist – alles verklingt in eine Stille, die ganz anders ist, als die Stille, die vor der Übung dagewesen war. In der Stille kann ich den ahnen, der ursprünglich diese Worte gesprochen hat. Ich kann nach einigen Augenblicken wieder von vorne beginnen, indem ich die Worte nochmal vorlese oder sie innerlich spreche, als würden sie mir von außen kommen. Die Form der Übung verkörpert den Sinn der Aussage: Je reicher und lebendiger die Vorstellungen und Gefühle waren, die ich in den ersten Schritten entwickelt habe, umso erfüllter wird die Stille, die im letzten Schritt entsteht, nachdem ich sie aufgegeben habe. 

Als Kind kannte ich bei Reisen auch eine andere Stimmung: Nach einiger Zeit gab ich mich dem Erleben hin. Ich träumte in die Landschaft hinein – schaute die Bäume, sogar die Telegraphenmasten an, wie sie an mir vorbeigingen, und war fast enttäuscht, wenn diese Zwischenzeit des Reisens vorbei war. Es fühlte sich besser an, im Prozess des Reisens zu sein, als mit der Wirklichkeit des Ankommens konfrontiert zu werden. Auch in den Schwierigkeiten des Lebens eine solche Einstellung zum Weg – wie schwierig er auch scheinen mag – zu gewinnen, verhilft uns, uns dem Neuen zu öffnen.