Tasten, Berühren und Berührtwerden

AutorIn: Wolfgang Rißmann

Welcher Zauber umfängt das neugeborene Kind, wenn es mit seinen Händchen zu tasten beginnt, das Gesicht der Mutter berührt, interessiert und freudig nach ihrer Nase greift und ihren Mund umfasst oder wenn es zufrieden an der Mutterbrust saugt. Aber nicht nur die Händchen und der Mund, der ganze Leib des Kindes tastet im Liegen bei jeder feinsten Bewegung, später beim Drehen und Wenden, beim Kriechen und Krabbeln.

Eine ältere Generation war überzeugt, dass das neugeborene Kind einen äußeren Halt benötige und wickelte es in feste Tücher zu einem Wickelkind. Inwieweit bedarf es tatsächlich eines äußeren Halts und einer Stütze? Welche Rolle spielt hierbei der Tastsinn?

Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass der menschliche Keim schon in der frühen Schwangerschaft zu tasten beginnt. Das im körperwarmen Fruchtwasser der Mutter sich bewegende Kind ertastet seine Umgebung im Bewegen der Gliedmaßen und erfährt Widerstand, je energischer es sich bewegt. Jede Mutter kennt die Erfahrung, wenn gegen Ende der Schwangerschaft die Bewegungen und damit das Tasten immer heftiger werden.

Dann arbeitet sich das Kind durch den Geburtskanal und verlässt den beschützenden Raum der mütterlichen Hüllen. Gewaltige Erfahrungen von Druck, Widerstand und Gepresstsein sind damit verbunden. Es gibt Hinweise dafür, dass diese Erfahrungen eine entscheidende Hilfe für das Ergreifen des Leibes bedeuten, auch im späteren Leben. Insofern ist das neugeborene Kind bereits geübt im Ertasten seiner Umgebung. Es hat den begrenzten Ort der Gebärmutter verlassen und beginnt nun Schritt für Schritt die äußere Sinneswelt als seinen neuen Umraum zu erobern, zunächst im Schutz der mütterlichen Nähe.

Sobald das heranwachsende Kind die Schwere zu überwinden beginnt und laufen lernt, konzentriert sich das Tasten mehr auf Hände und Füße. Das Kind untersucht immer eifriger die umliegenden Gegenstände, lernt glatte und raue Oberflächen unterscheiden, immer von Interesse und Freude begleitet. Später wird das Tasten zur selbstverständlichen Erfahrung im Alltag. Wir denken nicht weiter daran und stützen uns unbewusst auf das Tasten als Grundvoraussetzung menschlichen Lebens. Im Alter, wenn die vitale Spannkraft nachlässt und die Bewegungen unsicher werden, erhält das Tasten vermehrte Bedeutung für innere Sicherheit und Orientierung im Raum.

 

Mit dem Tastsinn erfahren wir die oberflächliche Beschaffenheit äußerer Gegenstände. Wir ertasten durch unsere Haut die Qualitäten von rau, glatt, weich, hart, samtartig, fest, elastisch, klebrig, flüssig. Neben diesen Berührungsempfindungen treten Druck- und Vibrationserfahrungen hinzu. Die feinsten Differenzierungen im Tasten sind an den Fingerspitzen, der Handinnenfläche und der Zungenspitze möglich. Erfahrungen von Dehnung und Druck treten aber auch in der Tiefe des Leibes auf, vor allem in Herz und Blutgefäßen, im gesamten Magen-Darmtrakt und in der Harnblase. Wir erleben das Klopfen des Blutes bei entzündlicher Schwellung der Finger, das Pochen des Herzens bei raschem Puls, den Druck einer prallen Harnblase, den übermäßigen Füllungszustand des Magens.

Bei allen Tasterfahrungen wirken der Bewegungs- und Gleichgewichtssinn mit, denn erst durch passives Bewegtwerden oder aktives Bewegen erhalten wir nennenswerte Aufschlüsse über die äußere Beschaffenheit der Gegenstände. Auch der Behaglichkeitssinn (Lebenssinn) schwingt in feiner Weise beim Tasten mit. Der Tastvorgang erfolgt durch die Tastkörperchen innerhalb der Haut und damit innerhalb des menschlichen Leibes. Der Leib erfährt eine Veränderung, die wir nach außen auf den ertasteten Gegenstand projizieren.

 

Der Tastsinn leitet die übrige Sinnesentwicklung ein. Er durchdringt alle weiteren Sinnesvorgänge, wir tasten synästhetisch mit den anderen Sinnen. Überall, wo Widerstand sich bietet, liegen Tasterlebnisse im höheren Sinne vor, auch beim Sehen mit den Augen, dem Hören mit dem Ohr, bei der Wahrnehmung von Gedanken und dem Erleben der anderen Persönlichkeit durch den Ich-Sinn.

Tasten ist Berühren, in Beziehung treten, anstoßen, Widerstand erfahren und letztlich Begegnung. Von allen zwölf Sinnesfähigkeiten des Menschen vermittelt der Tastsinn die basale Welterfahrung: »die Welt ist«. Das Feld der Tasterfahrung ist die Begegnung mit dem noch unbestimmten »etwas« und »irgendwo«. Am unbekannten Widerstand entsteht ein erstes Wachwerden. Tasten ist daher auch immer Grenzerleben. Wir werden unserer Grenzen bewusst und erwachen daran. Die Leere des Bewusstseins erfüllt sich mit der Erfahrung der eigenen Existenz.

 

Mit dem Tasten kann auch eine besondere Gefühlsintimität verbunden sein. Der Arzt tastet objektiv den Leib des Menschen ab, bleibt dabei aber bei der Tastempfindung stehen und enthält sich seiner seelischen Gefühle. Ganz anderes geschieht bei einer liebevoll streichelnden oder zärtlichen Berührung. Kleine Kinder bedürfen in besonderer Weise der liebevollen Berührung, aber auch alte Menschen in ihrer Hilflosigkeit, vor allem in der Demenz. Tasten führt zu menschlicher Nähe.

Auch die Begrüßung und Verabschiedung zweier Menschen ist immer ein Vorgang des Tastens und der sympathischen Berührung, die im Händedruck, in einer Umarmung, in einem freundschaftlichen Kuss und im Blick der Augen ihren Ausdruck finden kann.

Bei einem handgreiflichen Akt der Gewalt oder einer unberechtigten sexuellen Annäherung hingegen kommt es zu einer Grenzüberschreitung mit weitreichenden Folgen. Das weite Feld der Traumatisierung hat hier seinen Ursprung. Traumatische Tasterfahrungen graben sich tief in das Körpergedächtnis ein. Betroffene ertragen noch Jahrzehnte später keine äußere Berührung durch andere.

 

Die Sinne sind mehr als passive Rezeption außermenschlicher Gegenstände und Vorgänge. Sie sind die Grundlage für Selbstwerdung und soziales Vermögen. Dies lässt sich besonders an den Basis- oder Leibsinnen (Tastsinn, Behaglichkeitssinn, Bewegungssinn, Gleichgewichtssinn) erleben und erüben, gilt aber für alle Sinne. Der Pädagoge Heinz Deuser, langjährig tätig in der Ausbildung von Kunsttherapeuten, untersuchte diesen Zusammenhang in seiner Arbeit am Tonfeld und spricht vom haptischen Geschehen. Das Tonfeld ist ein flacher Kasten, der mit weichem, plastizierfähigem Ton ausgestrichen ist und in dem sich die Hände des damit arbeitenden Menschen tastend, bewegend und erlebend betätigen. Das haptische Geschehen versetzt uns unmittelbar in ein aktiv-passives Beziehungsverhältnis: Wir berühren etwas und sind selbst berührt. Wir erfahren uns an einem anderen, und wir erfahren anderes durch uns […] Im haptischen Vollzug reduziert sich der Weltbezug und der Selbstbezug unserer Hände auf das Geschehen in unseren Basissinnen. In ihnen gestalten und organisieren wir uns. Wir kommen uns zu ebenso wie wir uns äußern.1 

Dieser Vorgang vollzieht sich mit Hilfe des Tast-, Behaglichkeits-, Bewegungs- und Gleichgewichtssinns. Der haptische Raum ist der Sinnenraum, in dem wir aufgefordert sind zu uns, in dem wir uns nach unseren Möglichkeiten aufgreifen und entfalten können. Da wir uns im haptischen Geschehen von einem anderen her (hier dem Feld und seinem Inhalt) verstehen, ist das gelungene Zu-Uns immer zugleich das gelungene Zum-Anderen. Wir lernen im haptischen Aufbau, uns von uns aus auf ein anderes zu beziehen. Solch gegenseitiger Beziehungsaufbau, das eigene Erleben und die eigene Stabilisierung darin, sind gerade in der Arbeit mit Behinderten die Basis für die praktische Weltentdeckung. Aber eben nicht nur da.2  

Das Ergreifen des haptischen Raums mit den Händen unterscheidet sich grundlegend von Greifbewegungen der Tiere. Der Entwicklungsschritt vom Tier zum Menschen bedeutet einen großen evolutionären Sprung. Dieser Schritt ist nur durch den fortwährenden Wechsel zwischen Wahrnehmen und aktivem Bewegen möglich. Unsere eigene Entfaltung als Selbst gewinnt so ihre Realität.3 

 

In den letzten Jahrzehnten zeigen Kinder zur Zeit der Einschulung immer häufiger, dass sie im Gebrauch ihrer Hände und Füße ungeschickt sind, andererseits durch innere Unruhe, Distanzlosigkeit, Ängste, Konzentrationsmangel und vieles andere sich auffällig verhalten. Das hängt mit ungenügender Bewegung, vorzeitigem Gebrauch elektronischer Medien und anderen unzuträglichen Sinneseinwirkungen zusammen. Aus dem unmittelbar erfahrbaren Zusammenhang der Leibsinne mit der Selbstwerdung wird deutlich, wie wichtig bei der Erziehung der Kinder die systematische Übung des haptischen Vermögens ist. Das gilt in besonderer Weise für behinderte Kinder, die als Selbst nicht in ausreichendem Maße anwesend sind, keinen voll ausgereiften Bezug zu sich selbst und zu anderen Menschen aufbauen können. Auch für die therapeutische Arbeit mit seelisch kranken Menschen gilt das in ähnlicher Weise. Hier eröffnet sich ein noch wenig erschlossenes therapeutisches Feld.

 

In tieferer Weise ist der Tastsinn die Grundlage für die Entwicklung von Urvertrauen, einem zentralen Thema der Erziehung, Selbsterziehung und Psychotherapie. Rudolf Steiner (1861 – 1925) sprach hier von dem Erleben des Gottgefühls: Das Organ des Tastsinnes […] strahlt auch ins Innere herein, das strahlt in die Seele herein; nur merkt der Mensch den Zusammenhang seines seelischen Erlebnisses mit dem, was der äußere Tastsinn ertastet, nicht, weil die Dinge sich sehr differenzieren – was da ins Innere hineinstrahlt und was nach außen hin erlebt wird. Aber dasjenige, was da ins Innere hineinstrahlt, ist nichts anderes als das Durchdrungensein mit dem Gottgefühl […] Wir glauben noch nicht, wenn wir irgendetwas sehen, dass es auch im Raume vorhanden ist; wir überzeugen uns, dass es im Raume vorhanden ist, wenn der Tastsinn es ertasten kann. Dasjenige, was alle Dinge durchdringt, was auch in uns hereindringt, was Sie alle hält und trägt, diese alles durchdringende Gottessubstanz kommt ins Bewusstsein und ist, nach innen reflektiert, das Erlebnis des Tastsinnes.4 Gerade bei seelischen Erkrankungen fehlt oft dieses Urvertrauen in das eigene Leben und in die Welt. Die Folge sind tief greifende Ängste; das Gefühl des inneren Halts, der festen Ordnung, der eigenen Sicherheit geht verloren. Die Kunsttherapie eröffnet hier Möglichkeiten für eine sehr grundlegende Hilfestellung. Auch die Arbeit an der Erde im Garten- und Landbau schafft über die Berührung ein vertieftes Grundvertrauen in die Welt.  

 

1  Deuser, H.:
Der haptische Sinn. Beiträge zur Arbeit am Tonfeld,
Dortmund 2016, S. 9

 

2  Deuser, H.: Arbeit am Tonfeld. Der haptische Weg zu uns selbst, Gießen 2018, S. 66

 

3  Ebd, S. 119

 

4  Steiner, R.: Geisteswissenschaft als Erkenntnis der Grundimpulse sozialer Gestaltung (GA 199), Dornach 1985, Vortrag vom 8.8.1920, S. 55f

 

 

Weitere Literatur:

Scheurle, H. J.: Die Gesamtsinnesorganisation. 

Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung in der
Sinneslehre,
Stuttgart/New York 1984

 

Soesman, A.: Die zwölf Sinne. Tore der Seele,
Stuttgart 2019