Zärtlichkeit – von wehleidig bis überwältigend

AutorIn: Frank Hörtreiter

Zärtlichkeit – was für ein altmodischer Begriff! In meiner Jugend habe ich vergnügt dies Wort aufgespürt, wenn etwa Lessing die Speisen weichlicher Leute ironisch lobt, die »den zärtlichen Gaumen zu kitzeln« fähig sind. »Zärtlich«, also zartbesaitet und empfindlich zu sein, hat Luther schon dem blutrünstigen Amalekiter-König Agag zunächst angedichtet.1 Wehleidigkeit oder vielleicht Weichlichkeit klingen da an. 

Im galanten Zeitalter hat man Gefühle gern gepäppelt, bis sie ihre Überwältigungskraft verloren und stattdessen zum Kleingeld höflichen Umgangs entwertet wurden. Der Freiherr von Knigge (der sein berühmtes Buch geschrieben hat, um den überfeinerten Schein zu entlarven und schlichteren Naturen bessere Chancen zu verschaffen, nicht etwa zur bloßen Sittenpolitur) bringt das vergnüglich zur Sprache: 

»Mit Verliebten ist vernünftigerweise gar nicht umzugehn; sie sind, so wenig als andre Betrunkene, zur Geselligkeit geschickt; außer ihrem Abgotte ist die ganze Welt todt für sie. Man mag übrigens leicht mit ihnen fertig werden, wenn man nur Geduld genug hat, sie von dem Gegenstande ihrer Zärtlichkeit reden zu hören, ohne zu gähnen […]. Es ist eine gar sonderbare Sache um die ersten Liebeserklärungen. Wer mit seinem Herzen schon oft Spielwerk getrieben, seine zärtlichen Seufzer vor manchen Schönen schon ausgeblasen hat, dem wird es eben nicht schwer, wenn er einmal wieder sich die Lust macht, verliebt zu werden. […] Bei allen diesen conventionellen Gaukeleien aber empfinden dergleichen Leute gar nichts, lachen, wenn sie allein sind, des Possenspiels, das sie miteinander treiben, können voraus calculiren, wie weit sie morgen und übermorgen mit ihrem Geschäfte kommen müssen, und werden dick und fett bei ihrer Liebespein.«2 

Die deutsche Klassik hat da schon mehr Wucht entwickelt: Wenn Faust seinem Gretchen ein zärtlicher Liebhaber ist und doch zum Unglücksbringer wird oder wenn die heroischen schillerschen Hauptgestalten achtlos die Nebenfiguren in den Untergang treiben, dann ist das Geschehen auf der Bühne brutal, doch umso herzzerreißender fühlen wir Zuschauer mit den Untergehenden. 

Wenn die junge Thekla als Randfigur des Wallenstein-Dramas um den von Pferdehufen zertretenen Jüngling klagt: »Da kommt das Schicksal / Roh und kalt fasst es des Freundes zärtliche Gestalt«,3 dann ist auch auf der Bühne nichts mehr von Wehleidigkeit oder gar Weichlichkeit zu fühlen, aber der Schmerz um die geschändete Anmut. 

Eine Wende zeigt sich hier von der Selbstbezogenheit zum Mitfühlen: Die junge Frau denkt wohl weniger an ihren eigenen Verlust als an den Freund. Sie zwingt sich, alle Umstände des Todes genau zu erfahren: »Ich will nicht geschont sein!«

Vielleicht ist echte Zärtlichkeit immer von der Sehnsucht über einen Abgrund hinweg geprägt. Wenn ich an mich denke, dann fehlt mir womöglich Einfühlsamkeit für den andern. Um zärtlich zu sein, brauche ich zweierlei: dass ich mich in den andern versetzen mag und dass ich schon am eigenen Leib erfahren habe, was dem andern mangelt. Der sonst so intellektuelle Philosoph und Musiktheoretiker Theodor W. Adorno schreibt: »Der junge Brahms, dessen Genius bis heute kaum recht gesehen worden ist, enthält Stellen von so überwältigender Zärtlichkeit, wie wohl nur der sie auszudrücken vermag, dem sie versagt blieb.«4 Wer Brahms’ Biografie nur ein wenig kennt (auch in seinem selbstlosen Einsatz für die unglückliche Familie Robert Schumanns) und seine Resignation bei der Suche nach einer Lebenspartnerin, der kann Adorno nur beistimmen. So mancher bärtige norddeutsche Künstler des 19. Jahrhunderts hat bei aller spießigen Erhabenheitspose aus seinen verschwiegenen Einsamkeiten eine umso innigere Künstlerkraft erarbeitet, etwa Wilhelm Raabe, Theodor Storm oder Gottfried Keller. 

Es muss schwer gewesen sein für die Männer der damaligen Zeit, denn Zärtlichkeit wurde wohl eher den Frauen zugewiesen. Wohl dem Mann, der wenigstens hellfühlende Begleitung empfing! Ein Beispiel:

Friedrich Rittelmeyer berichtet, wie er – gerade 11 Jahre geworden – geglaubt hatte, einen Freund gewonnen zu haben. Der gab ihn aber preis, achtlos und nichtsahnend. Was war die Folge? »Damals konnte ich, zu Hause angekommen, weder sprechen noch essen und legte mich darum sofort ins Bett. Meine Mutter muss mir etwas angemerkt haben. Ich hörte sie auf das Zimmer zukommen. Um Gottes Willen, sie wird dich doch nicht fragen! Sofort ganz tief schlafen! Aber meine Mutter fragte nichts und sagte nichts, sondern setzte sich still neben mein Bett, ergriff meine Hand und blieb sitzen, lange – bis ich wirklich eingeschlafen war. Von diesem Tag an habe ich meine Mutter lieb gehabt. Gesagt habe ich es ihr allerdings erst fünfzehn Jahre später. Sie wusste das Geschehnis noch. Nie habe ich ein höheres Meisterstück mitfühlender Mutterliebe gehört.«5 

Nähe ist manchmal das Gegenteil von Zudringlichkeit.

Gibt es eigentlich Zärtlichkeit auch im Verkehr mit Gott? 

Gott kann in seinem Sohn selber zärtlich sein, weil er Leid erlebt hat. Im Sendschreiben an die Gemeinde Laodizäa heißt es: »Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich eingehen und das Mahl mit ihm halten und er mit mir.«6 Der Menschensohn ist nicht zudringlich, sondern höflich. Am Ende der Zeiten wird auch der Vater seine Zärtlichkeit zeigen, denn »er wird alle Tränen abwischen von ihren Augen«.7 

Können auch wir mit Gott, mit Christus zärtlich sein? Das würde ja heißen, dass wir seinen Mangel, seine Schmerzen wenigstens anfänglich mitfühlen und auch unser Mitgefühl übermitteln wollen. Das kann anmaßend wirken, doch es kann auch echt sein. Kunstvoll und trotzdem unmittelbar hat das Johann Sebastian Bach in seiner Matthäus-Passion in die Arien fließen lassen. Der Evangelist ist der Geschichten-Erzähler in den großen Oratorien, der Chor gießt die Ereignisse in das Gefäß der traditionellen Choräle, und die Solisten drücken aus, was die Einzelseele dazu fühlen kann: »Erbarme dich, mein Herz …«

Zärtlichkeit – so gesehen – wird zur mitfühlenden Liebe.  

 

1  Noch aus der ­griechischen ­Übersetzung des 1. Buches Samuel, 15,32 

 

2  Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen, zweiter Theil, 4. Kap.: Über den Umgang mit und unter Verliebten. 1788, hier zitiert nach der Reclam-Ausgabe von 1878. Das ganze Kapitel ist ein Leseschmaus! 

 

Wallensteins Tod, IV. Akt,12. Auftritt

 

Ästhetische ­Theorie, Frankfurt a.M. 1973, S. 412.

 

Aus meinem
Leben,
Stuttgart 31986, S. 28f

 

6  Offb 3,20

 

7  Offb 7,17 und 21,4