Die Frau mit dem Rentnerticket

AutorIn: Stefanie Rabenschlag

Ach du Schreck! Das Kind und ich wollen einen Wild- und Wanderpark besuchen. Es ist kalt, fast nichts los, wir kommen am Kassenhäuschen gleich an die Reihe. Ich sage: »Zwei Personen, das Kind mit Behindertenausweis, aber ohne B.« Der junge Mann rechnet schon mal, dann fragt er (vielleicht nur, um einen günstigen Preis an diesem kalten Tag angeben zu können): »Und für Sie dann ein Rentnerticket?« Ich schüttle den Kopf, nein, normales Ticket, und sage ihm nicht, dass er der Erste ist in meinem Leben, der mich das gefragt hat. Mit dem inneren Auge gleite ich mein Gesicht ab, ob ich heute irgendwie ...? Leicht erschrocken nehme ich dann also zur Kenntnis, dass ich jetzt im Rentnerticketalter bin. Was soll ich jetzt machen? Ich kenne die Frau ja nicht, die Frau im Rentnerticketalter. Kaum jedenfalls. An der Brille kann´s nicht liegen, oder? Hätte ich doch die Haare färben ...? Liegt jetzt eine graue Zeit vor uns beiden, der Frau und mir? Kann ich einen Abwehrversuch machen wie Robert Gernhardt mit seinem »Gast«: Das Alter klopft an meine Tür: / »Du bist da drin, ick spüre dir.« / Ich mach nicht auf und flüstre schwach: / »Lern du zuerst mal deutsche Sprach.« / Worauf der Gast zu gehn geruht. / – Ey, Alter! Das ging noch mal gut. – Nein, Abwehr nicht, Gaststatus, das geht. Ja, ich lade die Frau im Rentnerticketalter als Gast ein. Irgendwo muss sie ja unterkommen, sonst geistert sie womöglich herren- bzw. frauenlos durch die Gegend. Ob sie sich wohlfühlen wird bei mir? Wie ich vor ihr wird sie wahrscheinlich vor mir erschrecken. Ich hoffe, sie macht sich nicht allzu gemütliche Vorstellungen von unserer Zweisamkeit. Wenn sie mitkriegt, dass ich einen knapp siebenjährigen Jungen mit temperamentvollem (in Fachkreisen auch genannt: reaktionsungebremstem) Verhalten hier habe. Ach, du Schreck, wird sie sagen, wie Lina über Michel aus Lönneberga: Ach, du Schreck, was für ein Kind! Wirklich, also die darf nicht denken, sie kann sich bei mir aufs Altenteil zurückziehen. Sonntags Kirche, montags Café, dienstags Yoga, mittwochs wandern ... nicht drin. – Kennt sie mich? Das war sie, die mir gestern den Schlüssel in die andere Tasche gesteckt hat! Und ich bin den ganzen Weg zurückgelaufen, hab in allen Taschen gewühlt, obwohl ich schon länger – oder war sie das auch? – so ein langes Band am Schlüsselbund trage, damit ich – naja, Sie verstehen schon. – Wenn ich es richtig überlege, kann sie nicht hier bei uns einziehen. Das ist manchmal schon mit mir zu viel! Weil ich ja immer am besten weiß, wie es laufen soll und was geht und was nicht. Denken Sie ja nicht, das hätte mit Starrsinn zu tun. Ich habe meine Ordnung, ich weiß, welches Essen ich vertrage, wann ich schlafen gehen will, welche Vitamine wir brauchen. Wir würden uns gegenseitig nur verunsichern, sie mit dem Rentnerticket und ich, völlig verunsichern. Da wäre nichts mehr beim Alten! Nicht mehr mein vertrautes System, auf das ich mich verlassen kann. Plötzlich müssten wir kooperieren, abwägen. Ich weiß gar nicht, ob sie überhaupt genug Kraft hat für all das, was ich noch vorhabe. Die wäre mir vielleicht ein Klotz am Bein! Würde mich ausbremsen. Ob sie Demeter einkauft? Hat vielleicht nur eine kleine Rente ... Habe ich überhaupt eine Wahl? Kann ich nicht irgendwie aus dieser Verbindung herauskommen?

Irgendwie glaube ich, sie ist viel ruhiger als ich. Sitzt im Sessel, liest, hört geduldig dem Kind zu, rückt nicht mehr ständig die Möbel um, schaut aus dem Fenster dem Regen und den Vögeln zu, schweigt, philosophiert ... Merkwürdig, jetzt erschrecke ich schon weniger vor ihr. Ich könnte sie manches fragen, wenn sie so dasitzt und zuhört. Zum Beispiel, ob Gott über uns Menschen zuzeiten erschrickt? Über all das, was uns so einfällt zu tun? Sieht er uns fassungslos an, wie die weit geöffneten Augen der kleinen toten Laila aus Idlib, die am Körper ihres Vaters erfror, als er sie durch die Kälte zum Krankenhaus tragen wollte? Fragt er stumm aus dem Blick des Augenarztes Li Wenliang, der gegenüber Kollegen und der chinesischen Regierung als einer der ersten über den Corona-Virus sprach, deswegen als Whistleblower gemaßregelt wurde und nur wenig später an dem Virus starb? Schluchzt er aus den Worten des jungen Mannes aus der Shisha-Bar in Hanau, dem die Kugel nur die Schulter verletzt hat? Meint er uns, wenn er sagt »O Mensch, es ist leer die Stätte deines Herzens«? Sind es seine Augen, die sich an Fülle erinnern und nach dieser Herzensfülle erschrocken rufen?

Als Nächstes würde ich sie gern fragen, ob sie denkt, dass Gott uns erschrecken will. Ich höre schon, was sie antworten wird: Das sind wir selbst, die einander erschrecken. Manchmal nur mit dem kleinen alltäglichen Anderssein: »Der andere Mensch. Unglaublich, dass es den gibt, den anderen Menschen, der dasitzt und auf mich schaut und denkt: Dieser andere Mensch. Unglaublich, dass es den gibt! So blicken wir einander an: ungläubig der andere Mensch mich und ich voller Unglauben den anderen Menschen: Dass es uns gibt!« (Robert Gernhardt) Und oft genug wird aus dieser »Unglaublichkeit« des anderen eine Tat, die ihn und sein Anderssein aus der Welt haben will.

Ich könnte sie auch fragen, was der Schrecken mit uns macht. Wir könnten sprechen über Gabriels Hand auf dem Isenheimer Altarbild, die umgeben von rotgoldener Wucht der Ankunft die betende Maria erschrickt, sie herausnimmt, beinahe überwältigt mit dem ganz Anderen, das nun kommen soll. Und langsam würde ich dann auch verstehen, warum Rilke schreibt: Ein jeder Engel ist schrecklich. Weil er einen Schrecken verursacht, ein Erschrecken, das tief in unser Inneres kommen will, um dort etwas aufzubereiten, etwas bereit zu machen, zu erwecken, aus dem Grab zu holen. Aus dem Erschrecken wird so ein Erinnern, ein sich Erinnern an Urgesten des Menschseins, die oft verschüttet liegen unter den Wirren. – Tief würde unser Gespräch sein. Es würde reichen bis ins Grab der Erde, wohinein der Christus versenkt wurde. Nicht ein für alle Mal begraben, nein, versenkt. Das könnte ich endlich begreifen, warum dieses fast sanfte Wort »versenkt« hier steht: Ich könnte den Christus als die Grabbeigabe der Menschheit erkennen, als »Präparat«, der Erde zugesetzt, seine Substanz, die zu unserer Substanz wird, mit der wir uns mischen können, um nicht mehr teilnahmslos zu sein.

Die Frau im Sessel, die mit dem Rentnerticket, würde mir auch klarmachen, dass diese Ein-Mischung des Göttlichen wie ein Spiegel wirkt. Ein Spiegel, in dem wir uns erkennen, mit allem, dem Schönen und dem Schrecklichen. Dieses Bild würde ich gut verstehen, Selfie mit Doppelkinn quasi ... schrecklich. Zum Glück hat sie freundliche Augen, wohlwollende Spiegel-Augen. Wenn sie mich daraus ansieht, kann ich mich selbst auch ansehen, »... denn dies wird eine Augenliebe ...«, hat Else Lasker-Schüler gehofft. Kann ich das auch hoffen? Und mich einlassen auf das Zusammenleben mit der Frau mit dem Rentnerticket? Ich muss wohl. Einfacher geht es, wenn ich auch will. Vorher frage ich sie noch nach einer Vereinbarung. Damit wir etwas Verlässliches haben, falls es Streit gibt oder es irgendwie anders kommt als erwartet. Sie schüttelt lächelnd den Kopf: nein. Ich solle doch nicht schon wieder das Er-Schrecken ausschließen. Ob ich denn nichts gelernt habe aus unserem Gespräch bisher? Und dass es keinen Status geben könne mit ihr, sondern einen Weg, einen schrecklich-schönen Weg, kichert sie.

Und dann sagt sie etwas ganz Schreckliches und doch Wunderbares: Sie wird mich dann, wenn es so weit ist, zu Grabe tragen. »Na, wird das jetzt was mit uns beiden?«, fragt sie und streckt ihre Hand mir entgegen. Ich zögere immer noch. Mir fallen die Frauen am Grab ein, schon wieder ein Schrecken, kaum dass sie sich mit dem Tod abgefunden hatten, hört das denn nie auf? Ein leeres Grab. Maria Magdalena, die erschrickt vor dem, den sie für den Gärtner hält, bis er sie erinnernd anspricht und sie ihn erkennt. Ein Panorama tut sich mir auf in der Gegenwart dieser Frau mit dem Rentnerticket. Wer ist sie??? Ich blicke zu ihr hin, doch sie ist jetzt in ein Buch vertieft. Gleich darauf schaut sie strahlend auf und sagt mit der ihr eigenen Sprunghaftigkeit: »Letztes Angebot: mein Lieblingszitat von Rudolf Steiner!« Also gut, nicke ich, dann auch das noch. Und schrecklich heiter zitiert sie: »... Denn die Zeit wird kommen mit dem kommenden Christus, wo die Menschen lernen werden ... für das, was sie begründen wollen durch ihr unsterbliches Teil hier auf Erden, den Christus zu befragen. Der Christus ist ... ein Menschen-Bruder, der befragt werden will ... für alle Einzelheiten des Lebens«, und »Einzelheiten des Lebens« spricht sie fast im Fortissimo. Dann weiter: »... Und dennoch, die Zeit muss kommen, sie darf nicht ferne sein ... wo die Menschenseele den Christus als sie liebenden Genossen im Einzelfalle des Lebens« – wieder spricht sie das »Einzelfalle des Lebens« wie fettgedruckt – »neben sich sieht und nicht nur Trost, nicht nur Kraft bekommt von der Christus-Wesenheit, sondern auch Auskunft bekommt über dasjenige, was geschehen soll.« (GA 175, Berlin 6.2.1917). Und es sei jetzt aber wirklich das Schlusswort, wenn sie in Zeiten der Gender Equality außerordentlichen Wert darauf lege, dass der Christus heute natürlich ebenso in der Gestalt einer Menschen-Schwester zu befragen sei, für alle Einzelheiten des Lebens, verstehe sich, und die Menschenseele den Christus ebenso als sie liebende Genossin im Einzelfalle des Lebens neben sich sehe und Auskunft von ihr bekomme. Ob ich damit etwas anfangen könne mit Blick auf unser Zusammentreffen? – Ich gehe in die Küche. Denn essen müssen wir ja auch etwas. Und ich ahne, dass es schrecklich unvernünftig sein wird mit uns. Aber doch auch schön.