»Fürchte dich nicht!« | Über zwei Ausnahmesituationen des menschlichen Immunsystems

AutorIn: Bart Maris

Wenn uns etwas Unbekanntes oder Fremdes begegnet, das vielleicht auch bedrohlich sein könnte, empfinden wir oft einen Schrecken oder auch Furcht. Die Seele wird hellwach und bereitet sich rasch vor, sich zu wehren oder zu flüchten. Wenn wir vertrauensvoll zuhören, was jemand, der uns nahe steht, erzählt, dann nehmen wir seine Gedanken gerne in uns auf, ohne uns zu erschrecken. Wir können in die Erzählungen hineinträumen. Auf körperlicher Ebene wird das, was von außen auf uns zukommt oder auch im Innern des Körpers sich verändert, vom Immunsystem wahrgenommen und beurteilt nach vertraut oder fremd. Wenn es sich um etwas Fremdes handelt, reagiert das Immunsystem. Es entsteht eine Abwehrreaktion, manchmal mit Fieber und Schmerz. Wie bei einer Art Schreckensreaktion werden Immunzellen mobilisiert, die sich bemühen, den Organismus zu schützen vor Grenzüberschreitung oder Fremdbestimmung durch zum Beispiel einen Splitter oder auch Bakterien oder Viren.

 

Als Maria erschrak bei dem Anblick und den Worten des Erzengels Gabriel, sprach dieser »Fürchte dich nicht, Maria.« Dann verkündete er ihr, dass sie einen Sohn gebären wird. Es ist in der Tat schon sehr verwunderlich, dass ein noch ungeborenes Kind im Schoß einer Frau heranwachsen kann. Dieser Embryo bzw. das ungeborene Kind ist in vielerlei Hinsicht anders als die werdende Mutter, die Hälfte der Gene des Kindes stammen vom Vater und sind ihr in dem Sinne fremd. Warum wehrt sich das Immunsystem nicht? Während der Schwangerschaft liegt ein immunologischer Ausnahmezustand vor. Die Berührungsfläche zwischen dem mütterlichen Organismus und dem Embryo ist das embryonale Hüllenorgan, aus dem sich später die Plazenta entwickelt. Diese wird fälschlicherweise Mutterkuchen genannt, sie entwickelt sich aber aus embryonalem Gewebe, ist deshalb als embryonales Organ zu betrachten und »gehört« nicht der Mutter. Der immunologische Ausnahmezustand wird impulsiert vom frühen Plazentagewebe. Das »schwangere Immunsystem« ist in der Lage, diesen Impuls aufzunehmen und entsprechend zu reagieren, es versteht (meistens) die Botschaft und lockert seine Abwehrstrategie oder auch seine Selbstbehauptung. Wenn nicht, kommt es zu akuten oder chronischen Komplikationen in der Schwangerschaft und Embryonalentwicklung. Aber im normalen und gesunden Verlauf ist nicht nur die immunologische Abwehr zurückhaltender, der schwangere Organismus sorgt auch für eine stärkere Durchblutung und damit für eine optimale Versorgung mit den erforderlichen Nahrungsstoffen, außerdem schützt und behütet es den heranwachsenden Fötus über viele Monate. Es bietet einen sicheren Lebensraum für das Ungeborene. Diese bemerkenswerte Ausnahmeverfassung der Frau nennen wir auch die der »guten Hoffnung« oder »frohen Erwartung.«

 

In einer ganz anderen Ausnahmeverfassung scheint der menschliche Organismus zu sein, wenn er an Krebs erkrankt. Der Krebs kommt zwar aus eigenen Körperzellen hervor (zum Beispiel der Darmwand, der Brustdrüse oder der Lunge), aber diese haben sich sowohl genetisch wie in ihrem Benehmen und in der Struktur der Zelloberfläche (Rezeptoren) verändert. Sie dienen nicht mehr dem Wohl des ganzen Organismus, stimmen sich in ihrer Tätigkeit nicht mehr ab mit den anderen Organen, sondern sie sind autonom geworden und damit auf dem Wege zur Vernichtung des Ganzen. Dabei schaut das Immunsystem zu, erkennt die Verwandlung und die Gefahr nicht. Im Gegenteil, es versorgt dieses rasch wachsende, destruktive und metastasierende Gewebe noch mit besonderer Blutzufuhr. Die Tumorzellen sind in der Lage, sich vor dem wachsamen Blick des Immunsystems zu schützen, indem sie sich tarnen, um nicht als solche erkannt und abgewehrt zu werden.

 

Ist dies wirklich eine andersgeartete Ausnahmesituation wie in der Schwangerschaft? Vieles sieht doch sehr ähnlich aus. Es handelt sich um die gleiche Botschaft »Fürchte dich nicht«, die Halbfremdes zulässt und versorgt. Aber beim Krebs stammt diese zwingende Forderung oder gar Manipulation von entartetem, nach Autonomie strebendem, entdifferenziertem, strukturarmem und vernichtendem eigenen Gewebe. Im Gegensatz dazu geht es in der Schwangerschaft um die Empfängnis eines hochdifferenzierten, von einer keimhaften Menschenseele umhüllten und sich entwickelnden Organismus. Der Krebs erscheint hier als ein negatives, leeres Gegenbild der Schwangerschaft, das aber über teilweise lange Zeit (manchmal viele Jahre) in der Lage ist, sich unbemerkbar und unsichtbar zu machen und sich so vor den Angriffen des Immunsystems zu schützen. Die Schwangere darf sich der Begleitung und der Botschaft von Gabriel gewiss sein. Man könnte die Krebserkrankung wie einen falschen Propheten betrachten, der erkannt und entlarvt werden soll. Statt des gabrielischen »Fürchte dich nicht«, braucht es eher ein michaelisch-raphaelisches »Erkenne, erschrecke, fürchte und wehre dich«. Es ruft zur Wachsamkeit und zum Schutz der Grenzen auf, aber so, dass es keinen destruktiven Kampf, sondern eine heilsame Sensibilisierung des ­Immunsystems und damit eine Stärkung der Gesundheit ermöglicht!

 

In beiden Situationen geht es um das Verhältnis zwischen Innen und Außen, verbunden mit der Frage, wo eigentlich die Grenze verläuft. Was gehört noch zum Inneren und was ist schon Außen? Diese Grenze ist nicht hermetisch, sondern mal mehr, mal weniger durchlässig. Wie kann dieses Innere sich schützen vor negativen Einflüssen von außen, aber trotzdem Positives zulassen?

Was auf körperlicher Ebene anhand der Beispiele Schwangerschaft und Krebs gezeigt wurde, geschieht auf seelischer und auch geistiger Ebene täglich. Nehmen wir einen Gedankengang, eine Idee eines anderen Menschen befruchtend in uns auf, dann kann es sein, dass dies geschieht in einer wahren Stimmung des »Fürchte dich nicht«. Die Idee kann sich dann in uns weiterentwickeln und wachsen und sich als fruchtbar für uns und unsere Umgebung erweisen. Aber es können sich auch schlüssige und überzeugend aussehende Ideen einschleusen und sich in uns weiterentwickeln, bevor wir ihren Ursprung und ihre destruktive Wirkung wahrnehmen und uns diese bewusstmachen. Ein falsches prophetisches »Fürchte dich nicht« kann erfolgreich dafür sorgen, dass die wahre Gestalt dieser Idee nicht erkannt und nicht abgewehrt wird, bevor sie sich vernichtend in uns und unserer Umgebung ausbreitet.

 

So sind wir auf dreifacher Ebene – körperlich, seelisch und geistig – aufgefordert, mit dem rechten Gehör und der aufmerksamen Wahrnehmung darüber zu wachen, welcher Botschaft wir den fruchtbaren Boden und geschützten Raum unseres Innenlebens zum Gedeihen zur Verfügung stellen. Rudolf Steiner hat dies im Jahr 1923 in folgende Worte gebracht:

 

Wir Menschen der Gegenwart

Brauchen das rechte Gehör

Für des Geistes Morgenruf,

Den Morgenruf des Michael.

Geist-Erkenntnis will

Der Seele erschließen

Dies wahre Morgenruf-Hören.