»... sie wandte sich um.«

AutorIn: Georg-Henrich Schnidder

Alle wollen irgendwie die Wende. Die Klimawende, die Verkehrswende, die Politikwende, die Konsumwende, die Wende in der Landwirtschaft … Was soll nicht alles eine Wende bekommen! Und möglichst soll diese natürlich eintreten ohne große Veränderung oder Einschränkung für den Einzelnen, getreu dem Wort: Alle wollen es anders, aber niemand will sich ändern. Als ob solche geforderte Wende ein Ereignis wäre, das man herbeireden kann oder das sich einstellt wie der Frühling oder die Sommerferien. Dabei gibt es solche »Wende« nie, ohne dass ein Jemand sich selber wendet, umwendet, zuwendet. Sie ist immer Folge einer inneren und äußeren Tätigkeit.

 

Das Motiv der Wende, besser des sich-Umwendens ist alt. Schon in der vorchristlichen Zeit schildert der griechische Mythos, wie der Sänger Orpheus, der Sohn des Sonnengottes, seine Gemahlin Eurydike verliert. Sie stirbt und kommt in die unsichtbare Unterwelt. Orpheus jedoch, in großer Liebe, geht ihr nach, bezaubert durch seinen Gesang den Gott Hades, den König der Unterwelt und erhält die Erlaubnis, Eurydike wieder auf die Erde zu führen. Bedingung ist, sich nicht zurückzuwenden, bis er das Tageslicht erreicht. Er bricht das Verbot und verliert Eurydike dadurch endgültig. Christoph Willibald Gluck hat sein herzzerreißendes Klagelied genial in Töne umgesetzt: »Ach, ich habe sie verloren, all mein Glück ist nun dahin!« Dass es in seiner Oper ein Happy End gibt, ist der Erwartung der Zuschauer geschuldet. Doch es bleibt die Aussage: Die Begegnung mit dem Unsichtbaren, mit der Überwelt bzw. Unterwelt ist möglich. Man kann von dort etwas mitnehmen ins Licht des Alltags. Aber Umwenden, um das Gefundene zu halten, führt zum Verlust. Wer einen nahestehenden Menschen durch Tod verloren hat, kann diese Erfahrung manchmal auch heute machen. Im Schlaf, im Traum begegnet er dem Verstorbenen und fühlt ihn nahe. Aber dieses Gefühl zu halten, gelingt kaum – es sei denn, man lässt die Nachtbegegnung mit dem Verstorbenen innerlich frei. Dann kann sich die Nachterfahrung auch im Tageslicht einstellen. Eurydike darf folgen. Wer sich umwendet, verliert sie.

 

Was der Mythos als Bild schildert, findet zu Ostern seine Fortsetzung im Historischen. Denn wir kennen Tag, Ort und Stunde, da der Kreuzestod Jesu Christi geschah, seine Grablegung und auch das Datum des ersten Tages der Woche (5. April 33), an dem die Jüngerinnen und Jünger zu der Grabstelle gehen und erschüttert von dem Erleben des leeren Grabes davon laufen. Die Wege waren nicht weit, kurz vor Sonnenaufgang gab es ein reges Hin und Her. Zuletzt bleibt Maria Magdalena allein (Joh 20,11–18). Sie sieht unter Tränen ins Grab, ins Dunkle. Sie geht nicht hinein wie Orpheus, aber sie schaut die Engelwesen, die dort wirken. Der, den sie sucht, ist dort nicht zu finden. Nun sind die Rollen umgekehrt: Die Frau fragt nach dem Gottes-Sohn – er ist dort nicht. So wendet sie sich um. Da das Grab Jesu nach Westen in den Fels geschlagen war, schaut sie im Licht der aufgehenden Sonne zunächst das »nicht hier«. Dann kommt die Wende, d.h. sie wendet sich nach Osten, der Sonne zu, wie es seitdem in der christlichen Kirche weltweit geschieht. Nicht mehr im Toten, im Fels sieht sie den Verlorenen, den Christus, sondern im Lebendigen, im Garten. Die äußerliche Wendung schafft die neue Blickrichtung. Der Auferstandene ist nicht im Festen, im Historischen zu erleben, sondern im Veränderlich-Lebendigen. Im Augenblick aber, da sie beim Namen gerufen wird, wendet sie sich wieder um und vollzieht damit eine zweite Wendung. Diesmal keine äußerliche, denn sonst hätte sie wieder ins leere Grab gesehen. Diese Wendung ist Erkenntnis: »Rabbuni – Meister!« Dem Schauen des Toten und dem Erleben des Lebendigen folgt die Erkenntnis. Der eigene Name, das Bewusstwerden des Ich führt zur Erkenntnis des Christus als Auferstandenem.

 

War es hier die abgrundtiefe Trauer, die ein Mensch aushält, aus der er sich durch »Wenden« befreit, so ist es bei einer anderen Begegnung das Bewusstsein der Schuld. Die dreimalige Frage des Christus an Petrus am Ufer des Sees Genezareth (Joh 21,15–25): »Liebst du mich?« ist das Echo auf die dreifache Verleugnung am Karfreitag. Es ist ein Blick wie von jenseits der Todesschwelle auf das eigene vergangene Leben, aber ein Blick mit den Augen Christi. Keine Verurteilung, sondern der Wille zum Guten. Dreimal gefragt zu werden und dabei sich nicht zu wehren, sich nicht zu verschließen, sondern das eigene Versagen auszuhalten und mit Bescheidenheit zu antworten, führt den Menschen Petrus zu sich selbst. Hier ist nicht der Name, hier ist es sein Schicksal, das ihm zugesprochen wird. »Ein anderer wird dich führen, wohin nicht du willst.« Daraufhin wendet auch Petrus sich um und sieht den Lieblingsjünger Jesu. Aber nicht um den oder die anderen geht es, sondern um ihn selbst. Statt an die Lebensaufgaben von anderen soll er sich an seine eigenen halten: du folge mir! Diesmal kommt es nicht auf die Wendung zu anderen an, sondern auf das »Bleiben« bei sich. Maria Magdalena bleibt, dann wendet sie sich. Petrus wendet sich, soll aber bei sich bleiben.

 

Ein drittes Mal finden wir das Motiv des Sich-Umwendens in der Offenbarung des Johannes. Während seiner Verbannung auf Patmos lebt Johannes in größter Einsamkeit, denn die Insel war damals kein Pilger- und Touristenziel, sondern ein verlorenes Eiland im Nirgendwo. Dort zu leben bedeutete, abgeschnitten zu sein vom Rest der Zivilisation. Dort wird dem Jünger Johannes an einem Sonntag die Erfahrung der geistigen Welt zuteil. Man kann annehmen, dass er am Sonntag die Auferstehung des Christus gefeiert hat; ob innerlich-meditativ oder in einer Vorstufe der Messe, sei dahingestellt. Denn jeder Sonntag ist in gewissem Sinne eine Wieder-Holung des allerersten christlichen Sonntags, des Ostersonntags. Das Erste, was er nun vernimmt, ist eine Stimme. Es ist der Logos, das Welten-Wort, das zu ihm spricht. Gewaltig wie Posaunenschall klingt dieses aus dem Umkreis. Danach wendet auch er sich um, um diese Stimme anzuschauen. Er möchte den Ursprung des Logos schauen. Zur Inspiration kommt so die Imagination, das geistige Bild-Erleben. Dieses Umwenden ist ein Zu-wenden und führt zur Begegnung von Ich und ICH, von Mensch und Gott. Daraufhin folgt zuletzt von Seiten des geschauten Menschensohns die Handauflegung als Zu-Wendung. Die dritte Stufe des geistigen Erlebens ist die Intuition, die Wesens-Berührung.

 

So ist diesen drei Ostererfahrungen eines gemeinsam: es geht ihnen eine persönliche kritische Lebenssituation voraus: tiefe Trauer über den Verlust des Herrn und »Meisters«; das Anerkennen der eigenen Schwäche und Schuld; die Einsamkeit und äußere Ausweglosigkeit. Nicht dass solche Situationen zwingend notwendig wären. Aber in diesem Falle halten die Menschen es aus, sie bringen die Kraft zu »bleiben« auf und finden dadurch die Möglichkeit, sich zu wenden, sich umzuwenden, sich dem auferstandenen Christus zuzuwenden. Als Antwort auf die Wende erleben sie seine Gegenwart. Denn auf Passion folgt Ostern, nicht nur damals. Immer.