Nähe und Abstand | Gedanken in viralen Zeiten

AutorIn: Lars Karlsson

Früher suchten wir oft Nähe. Plötzlich wurde alles anders – nun gilt Distanz. Covid-19 hat eine ganze Welt umgeworfen. Wenn alles vorüber ist – finden wir dann den »richtigen« Abstand?

Für ein Kind sind auch ferne Gegenstände nah, alles ist »hier«. Noch als Erwachsene können wir mühelos die Spiele der Kindheit wiedererleben – Stimmungen, Düfte, Geschmack, Farben und Geräusche. Als die schwedische Autorin As­trid Lindgren einmal von ihrer Kindheit erzählte, sprach sie von Edit, einem Dienstmädchen: »Diese Edit – gelobt sei sie jetzt und immer – las für mich die Geschichte vom Riesen Bam-Bam und der Fee Viribunda und setzte damit meine Kinderseele in Vibrationen, welche immer noch nicht richtig abgeklungen sind. In einer seit langem verschwundenen kleinen Arbeiterküche war es, als ob ein Wunder geschah, und seit diesem Tag gab es in der Welt keine andere Küche mehr.« Wir wurden Erwachsene dadurch, dass wir Schritt für Schritt Abstand von dem Nahen nahmen. Die Frage von Nähe und Abstand hat viele Dimensionen, besonders in der Pädagogik, und die Lehrer müssten sich immer fragen: »Wie kann ich mit den Kindern in einer vernünftigen Weise Abstand zum Nahen schaffen und das Ferne näherbringen?« Das ist gar nicht so einfach, was sichtbar wird in dem verbreiteten modernen Erlebnis von Verfremdung; ein Phänomen, das vor ein paar Jahrhunderten kaum existiert hat. Die Isolation und die psychischen Probleme vieler junger Menschen heute hängen vielleicht auch mit dem Distanz-Nähe-Komplex zusammen.

 

Das Märchen ist immer »hier«

In ihrem Buch Mio, mein Mio erzählt Astrid Lindgren von dem 9-jährigen Waisenjungen Bo Vilhelm Olsson, dem es nicht besonders gut geht. Die nette Tante Lundin gibt ihm einen Auftrag, und das führt ihn zur Insel der Grünen Wiesen. Da ist alles anders, aber ihm trotzdem irgendwie auch vertraut. Dort findet er auch seinen richtigen Vater. Es wird ihm klar, dass er eine wichtige Aufgabe hat. Er erreicht schließlich das Ziel, das Land Außerhalb, wo der böse Ritter Kato regiert. Im entscheidenden Kampf siegt Mio über Kato, und die ganze Welt verwandelt sich. Die Erzählung verfolgt das klassische Märchenmuster. Die Fahrt zum Land der Ferne ist auch eine Reise in das Innere des Menschen, in das Reich der Urbilder. Mio begegnet Menschen und Tieren, die er von früher kennt, aber jetzt in verwandelten Gestalten. Die Alltagswelt »hier und jetzt« hat ihre Entsprechung auf der anderen Seite. Das Ferne ist ganz nah, sogar in uns. Eine alte Weisheit sagt: »Hast du Probleme mit dir selbst, dann suche die Antwort draußen, und hast du Probleme mit der Welt, dann suche die Lösung in dir selbst.« Das Märchen schildert nicht nur die Reise eines einzelnen Menschen, wir können auch die Entwicklung der Menschheit darin ahnen.

 

Der Abstand wächst

Diese Verwandlung wird in der bildenden Kunst sichtbar. Die Perspektive der alten Ikonen stellt den Betrachter mitten in das Bild, er ist ein Teil des Geschehens. Im 15. Jahrhundert entwickelt Masaccio ein neues, revolutionierendes Phänomen in der Malerei: die Linienperspektive mit Fluchtpunkt. Der Betrachter entfernt sich jetzt vom Gegenstand: »Ich stehe hier, und die Dreidimensionalität macht mich zum Betrachter des Geschehens.« In der Welt der Sprachen können wir etwas Ähnliches bemerken. Die westlichen Sprachen werden vorwiegend nach dem Subjekt-Objekt-Prinzip aufgebaut. Ein moderner »Westler« ist sozusagen eher »hier« und wirkt in der Welt, die »dort« ist – eine Armlänge entfernt. Wenn wir in die östliche Richtung gehen, finden wir Sprachen, die verschiedene grammatikalische Formen wie Ergativ und Absolutiv anwenden, abhängig von dem, ob ein Geschehen von Seiten des Subjekts oder des Objekts angeschaut wird. Man kann also »hier« sein, aber auch »dort«; es hängt von der Situation ab. In einigen von diesen Sprachen (wie im Altgriechischen) nehmen auch die Verben verschiedene Formaspekte an, die die starren temporalen Kategorien verschieben und verlebendigen. Die Alienation, das Sich-fremd-Fühlen, ist ein typisch westliches Phänomen und kommt oft in unserer Literatur vor. Verner von Heidenstams Hans Alienus und Albert Camus’ L’étranger (Der Fremde), wie auch Wassili Golowanows Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens sind gute Beispiele.

 

Die Flimmerkiste – nah oder fern?

Die digitale Welt schafft ein starkes Erlebnis von Nähe. Stimmt es oder ist es nur eine Illusion? Wenn Kinder anfangen zu empfinden, dass der virtuelle Baum auf dem Schirm wahrer als der richtige Baum da draußen ist, dann müssen wir uns fragen, ob nicht die künstliche Nähe im Monitor nur ein raffiniertes Mittel ist, um die Kinder immer weiter von der handfesten Realität wegzuführen. Verglichen mit den alten Technologien, wächst die physische Distanz zum Gegenstand, der bearbeitet wird, immer mehr. Dicht umgeben von einer Menge von Monitoren sitzt heute der Techniker in seinem Glaskäfig, während weit unten am Werkstattboden Roboter die Arbeit leisten. Der Abstand wächst, und gleichzeitig wächst auch rasant die Fähigkeit des Menschen, die Materie konkret zu verwandeln und zu manipulieren.

 

Schaffen wir es?

Ein einziger Mensch in der heutigen westlichen Welt macht derzeit einen ökologischen Fußabdruck, den vor einigen Jahrzehnten ein ganzes Dorf machte. Deshalb können wir uns fragen, ob wir wirklich das Recht haben, Dinge zu entwickeln, zu denen wir keine nahe gefühlsmäßige Relation haben. In allen Zeiten hat der Mensch durch seine Kunst und seine Religion das Verhältnis zu den Phänomenen in seiner Existenz ausgedrückt – bis in die alltäglichsten Gegenstände.
Wir können ein einfaches Beispiel, das der Erzeugung von Energie nehmen. Die Aufgabe einer Wassermühle und eines Atomkraftwerks ist im Grunde dieselbe: Kraft zu erzeugen mit Hilfe einer Turbine. Es gibt bestimmt Hunderte von Gedichten oder Liedern über Wassermühlen. Aber hat jemand irgendwann ein Gedicht über einen Atommeiler gelesen? Wenn es ein solches Gedicht gibt, ist es wahrscheinlich von Angst oder Beklemmung geprägt. Es ist, als ob der Mensch sich mit einer Wassermühle irgendwie identifizieren kann, sie wird als »nah« erlebt, aber wie ist es mit dem Atomkraftwerk? Wir können die gar nicht so naive Frage stellen: Haben wir das »Recht«, etwas in die Welt zu stellen, zu dem wir kein gefühlsmäßiges Verhältnis haben?
Der Mensch ist eine Ganzheit. Die Griechen sahen in ihm vier Wirkens- und Kraftfelder: pneuma, psyche, soma und sarx.
• Auf der Ebene von sarx waltet Abgrenzung, Kausalität, Geburt und Tod – entweder-oder. In dieser Sphäre können nicht zwei Gegenstände gleichzeitig denselben Platz einnehmen. Die Welt der Steine entspricht am ehesten dieser Stufe.
• Im somatischen Bereich sind die Grenzen schon fließender. Mehrere Menschen in einem Zimmer atmen dieselbe Luft ein und aus. Wo ist wohl dann die Grenze zum Nachbarn? Unter den Pflanzen finden wir hierzu die nahestehendste Entsprechung. Ohne eine zeitliche Dimension kann dieser Bereich kaum beschrieben werden.
• Die Gefühlswelt (psyche) ist noch beweglicher und durchlässiger. Zeit und Raum bilden hier keine absoluten Grenzen. Gefühle wie Sehnsucht holen das Ferne ganz nah. Jeder Mensch hat seine eigene Gefühlspalette, die hinter dem normalen Bewusstsein stets mit der Umgebung spielt und wirkt. Gefühle finden wir auch bei den Tieren.
• Beim pneuma sind wir in der rein menschlichen – sogar göttlichen – Sphäre. Diese Ebene kann nicht direkt definiert werden, sie ist eher eine suchende Instanz im Menschen, stets auf dem Weg, Sinn, Relation und Bedeutung zu entdecken – kurz gesagt: einem vertraulich-nahen Du im Dasein zu begegnen. Ein bisschen überspitzt könnte man sagen, dass es ohne die Suchbewegung das »Ich« eigentlich nicht gibt.
Die Ebenen sind nicht von einander getrennt, sie durchdringen sich unentwegt. Das Verständnis der vier Wirkensfelder im Menschen kann ein Bewusstsein für die Paradoxien des menschlichen Handelns wecken. Ein dynamisches Spannungsfeld tut sich auf: Der Augenblick ist ebenso bedeutungsvoll wie die langen zeitlichen Bögen und das Allerkleinste ist ebenso wichtig wie das Riesengroße.

 

Groß denken – und klein denken

Die mittelalterlichen Naturphilosophen, die das naturwissenschaftliche Denken der Neuzeit vorbereiteten, haben die Pneuma-Dimension nie weggelassen. Sigfrid Aronus Forsius (1560 – 1624) finnischer Pfarrer, Philosoph, Astronom, Dichter, Physiker und vieles mehr, hat bei allen Erscheinungen auch nach ihrem Sinn gefragt. Er betonte, dass alles von allem abhängig sei und dass es keinen Bruch zwischen dem allerkleinsten Stoffpartikel und Gott gebe. Folglich musste er mehrmals ins Gefängnis. Heute ist es jedoch durchaus möglich, einem gediegenen Wissenschaftler zu begegnen, der ein lebendiges Verhältnis zur Religion hat, aber trotzdem der Meinung ist, dass Religion und Wissenschaft nichts mit einander zu tun haben. Das eine macht man an den Wochentagen und das andere am Sonntag.
Wenn wir das ganze menschliche Wirkensfeld betrachten, bilden Wissenschaft, Kunst und Religion eine Ganzheit, in dem die Bereiche gar nicht in Widerspruch zueinander stehen müssen, sondern miteinander spielen wollen. Der Sinn einer Erziehung, bei der das intime Verhältnis zur konkreten Welt bewahrt wird, besteht darin, dass alle drei Gebiete von der frühesten Kindheit an Nahrung bekommen. Ein Wissenschaftler sollte in seinem Forschen – wie der Künstler – in solche Tiefen dringen, dass er die eigene karge »Sprache« der Phänomene erklingen lässt – ohne hochtrabende Theoretisierungen oder aufgeblasene Religiosität.
»Suche das richtige Maß«. Diese Devise der griechischen Philosophen würde bedeuten, dass wir lernen sollten, die fernen Phänomene näherzuholen, damit sie erlebbar werden, und die nahen weiter wegzuführen so, damit wir sie gestalten und verstehen können. Das Motto müsste sein: Nicht zu viel, nicht zu wenig. Nicht zu weit weg, aber auch nicht zu nah. Das setzt eine mutige Auseinandersetzung mit der Welt und mit den Menschen sowie das Suchen nach einer gemeinsamen Sprache voraus.

 

Corona als Möglichkeit

Ein winzig kleines Virus hat eine ganze Menschheit gegen die Wand gestellt, was keine Weltkriege, keine Atombomben, keine Luftverschmutzungen, keine Steuerskandale oder sonstigen Katastrophen vermocht haben. Es betrifft uns alle, ohne Ausnahme, niemand ist geschützt. Es ist hautnah und überall. Es hat uns in eine extreme Isolation getrieben. Für wie lange Zeit? Keiner weiß es. Im besten Fall kann die schmerzvolle, aufgezwungene Distanzierung eine Hunger- oder Durstempfindung in uns wecken, sodass wir uns neu nach Nähe und Intimität sehnen und einsehen, wie wertvoll – ja, lebensnotwendig die Nähe zu anderen Menschen und zu unserer Umwelt ist. Gleichzeitig hat es uns zu einem fast kosmischen Bewusstsein brutal wachgerüttelt: Wir können nirgendwohin fliehen, sondern wir müssen gemeinsam – als Menschheit – etwas machen, wenn die Natur revoltiert. Die Menschen können einander an der Nase herumführen, aber die Natur trügt nie. Jetzt hat sie gesprochen. Wenn der Sturm vorbei ist, können wir getrost neu anfangen – im Kleinen wie im Großen.