Warum muss ich sterben, obwohl Christus den Tod überwunden hat? | Von der Sehnsucht zu leben und der Gnade zu sterben

AutorIn: Johannes Beurle

Auf dem Totenbett ist dies keine philosophische Frage, sondern eine existenzielle. Warum wird sie so selten früher gestellt? In ihr liegt zweierlei: die Frage nach unserer Sterblichkeit und die Frage nach der Bedeutung des Christus. Haben unser Sterben und das Mysterium von Golgatha etwas miteinander zu tun, hat die Tat Christi eine konkrete Auswirkung auf mein Leben und Sterben oder bleibt das Christentum letztlich nur Folklore?
Zum Jahresbeginn ereilte die Welt eine gewaltige Krise. Mit großer Geschwindigkeit breitete sich das neuartige und potentiell tödliche Virus aus. Nur eines verbreitete sich noch schneller als das Virus – die Angst davor. Kaum betritt der Tod die Bühne, erstarren die Herzen in Todesangst. Wir hören oft auf zu leben, nur um dem Tod zu entgehen. Die Angst vor dem Sterben ist aber vielleicht nur ein Zerrbild unserer Sehnsucht nach dem ewigen Leben. Daran wird fleißig geforscht. Wie kann man das Altern aufhalten? Wie kann man den Tod so lange wie möglich hinauszögern? Die Hoffnung, eines Tages vielleicht sogar eine Art Impfung gegen den Tod zu entwickeln, kann man hinter diesem Bemühen wahrnehmen.

Auch im Christentum spielt die Hoffnung auf das ewige Leben eine Rolle. Man könnte sogar behaupten, dass sie dort erfunden wurde. Besser müsste man sagen: wieder gefunden. Und doch stehen auch wir als gute Christen eines Tages an der Todesschwelle. Und spätestens dann fragen wir uns jene Frage, der wir vielleicht bis jetzt ausgewichen sind: Warum muss ich sterben, obwohl Christus den Tod überwunden hat? Hat das, woran ich da glaube, auch jetzt noch Bestand? Oder ist es nur Theorie?

 

Warum müssen wir sterben?

Dass alles, was uns umgibt, ein Ende hat, liegt daran, dass wir Menschen in der irdischen Welt leben. Und alles Irdische ist vergänglich. Nicht ewig. Und so ist es nur konsequent, dass auch wir nicht ewig sind. Die Todesangst, die sich in den letzten Monaten über die ganze Menschheit ausgebreitet hat, hat nur sehr bedingt etwas mit dem Coronavirus zu tun. Die leeren Toilettenpapierregale zeigen dies besonders deutlich. Diese Angst ist Folge einer anderen Krankheit, einer viel tödlicheren Krankheit, neben der die Statistiken des Coronavirus geradezu harmlos erscheinen. Es ist kein neues Virus, sondern die älteste Krankheit überhaupt: Die Sündenkrankheit. Symptome: Selbstsucht, Angst, Materialismus. Es ist die Sündenkrankheit, durch die der Tod in die Welt kam. An ihr leiden wir alle, durch sie werden wir eines Tages alle sterben (Letalitätsrate: 100%).

 

Wie kann Gott das zulassen?

Ist die Todesstrafe für den Verstoß gegen ein göttliches Verbot nicht zu hart? Leicht unterstellen wir Gott, im Zorn eine harte Strafe verhängt zu haben, und übersehen den Fortgang der Ereignisse. Lesen wir nur etwas weiter in der Sündenfallgeschichte, macht Gott deutlich, dass der Mensch den Garten Eden verlassen muss, damit er nicht auch noch vom Baum des Lebens esse und ewig lebe. Der Zugang zum Baum des Lebens ist von nun an von einem Cherub versperrt (1. Mose 3, 22ff). Der Mensch hat vom Baum der Erkenntnis gekostet, aber nicht nur das: Es war die Schlange, die ihn dazu verführt hat, die den Stachel der Selbstsucht in des Menschen Herzen gebohrt hat. In diesem Zustand darf der Mensch unter keinen Umständen vom ewigen Leben kosten.

 

Was ist denn wert, ewig zu währen?

Mit der Ewigkeit ist es ja so eine Sache. Ich erinnere mich noch gut an manche Wonneaugenblicke der Kindheit. Die wöchentliche Badewanne ist solch einer. Hätte ich einen Wunsch frei gehabt, hätte ich mir gewünscht, ewig in diesem warmen Bade zu bleiben. Es war einfach zu schön, um es enden lassen zu wollen. Leider kam dann doch immer die Mutter und der Traum zerbrach mit dem Handtuch. Als Eltern haben wir oft die Aufgabe, die Kinder zu lehren, dass wir in einer endlichen Welt leben. Gleichzeitig ist diese Endlichkeit auch Trost. Wenn ein Kind sich verletzt hat, können wir ihm sagen: »Das geht wieder vorbei.« Natürlich bin ich heute froh, dass meine Mutter die Rolle des Todes bei meinen Badeerlebnissen übernommen hat. Säße ich dort heute noch, wäre ich doch recht unglücklich. Ich wusste damals eben noch nicht genau, was ich wirklich will. Zu sehr war ich gefangen im Empfinden des momentanen Wohlgefühls. Das Bad tat nicht der Welt gut, nur mir. So ändert sich im Laufe der Entwicklung das Bewusstsein und die eigenen Prioritäten verschieben sich. Bis die eigene Moralität voll ausgebildet ist, birgt die Endlichkeit einen unschätzbaren Trost. Alles geht vorbei, Fehler können wieder ausgeglichen werden.

 

Die Gnade, zu sterben

Im Großen hat der Tod diese Aufgabe übernommen. Er ist die verborgene Tür zurück in den Himmel. Das Erdenleben gleicht doch manchmal dem wonnevollen Bad in der Wanne – zu schön, um es zu beenden – und doch ist noch nicht alle Selbstsucht überwunden. Wie furchtbar wäre es, diesen Zustand für immer einzufrieren, den Sündenfall auf ewig zu zementieren. Denn neben der Selbstsucht Luzifers lebt in uns die Erdsucht Ahrimans. Unser größter Wunsch, eines Tages den Sündenfall zu überwinden, uns wieder mit der göttlichen Welt zu verbinden, spüren wir nicht in der Sehnsucht nach der geistigen Welt, sondern in uns lebt eine tiefe Angst vor dem Tod, eine Angst vor der geistigen Welt. Dieser Durst nach Dasein ist unser Antrieb, hier auf der Erde etwas zu schaffen. Aber ist es unsere Bestimmung, es uns hier gemütlich einzurichten und für immer hier zu bleiben? Wir haben hier auf der Erde eine Aufgabe. Diese schlummert als Ziel jenseits der Todespforte. Wir sollen uns hinaufschwingen und den Geist auf die Erde bringen. Solange wir das noch nicht vermögen, können wir dankbar dafür sein, dass uns die geistige Welt gelegentlich wieder in die Höhe hebt. Auch wenn es das Durchschreiten der Todespforte bedeutet.

 

Was bedeutete das Sterben Christi  für den Tod?

Wir sind hier auf der Erde, um etwas zu schaffen. Der erneute Zugang zum Baum des Lebens führt nicht zurück in den Garten Eden, sondern vorwärts ins Himmlische Jerusalem. Ein Weg vom Garten in die Stadt, von der Natur zur Kultur. Unsere Aufgabe ist es, die Erde zu verwandeln, zu veredeln (siehe auch Röm 8, 19f). Und nicht nur die Erde, sondern auch, und vielleicht ganz besonders, uns selbst. Der Tod bringt uns wieder in die geistige Welt, er unterbricht aber auch unsere Arbeit hier auf der Erde. Wie weit können wir in einem Leben damit kommen, uns selbst zu verwandeln? Was, wenn es uns nicht gelingt, unsere Selbstsucht und den Materialismus zu überwinden? Ist das Urteil über uns gefällt? Heißt es wieder bei Null anzufangen? Der Tod dient der göttlichen Welt und er dient uns. Doch dies liegt nicht in seiner Intention. Er ist »... ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.«1 Der Tod will uns von unserer Erdenbiografie wegreißen. Er will die Menschen daran hindern, ihre Aufgabe auf der Erde zu erfüllen. Das schien ihm fast zu gelingen, bis alles anders wurde. Indem Christus am Karfreitag in den Tod ging, hat er den Tod selbst verwandelt. Salopp gesagt: Hätte der Tod gewusst, wen er sich da ins Haus holt, vielleicht hätte er Christus leben lassen. So, wie es ihm nicht gelungen ist, Christus von seiner Aufgabe zu trennen, soll es ihm nun auch mit uns nicht gelingen.

 

Was bedeutet das Mysterium von Golgatha für unser Sterben?

Christus hat den Tod überwunden, aber nicht nur für sich. Zu Christi Himmelfahrt feiern wir gerade nicht den Erdenabschied des Christus. Man könnte meinen, nun sei er eben wieder im Himmel und alles sei wie vorher. Nein, er blieb und bleibt bei uns, bis ans Ende der Tage (Mt 28,20b). Mit seiner Himmelfahrt verband er sich mit der gesamten Erde und jedem Menschen. Nun begegnen wir im Todesaugenblick dem Christus (auch viele Nahtoderfahrungen berichten davon). Er ist der Herr unseres Schicksals. Dank ihm dürfen wir mit den Folgen unserer Taten verbunden bleiben, Fehler wieder ausgleichen. Aber nicht nur das, wir dürfen auch die Gewissheit haben, dass das, was wir uns schon errungen haben – das, was in uns bereits wert ist, ewig zu währen –, bestehen bleibt. Ein Wesenskern schreitet weiter von Inkarnation zu Inkarnation, bis wir uns selbst und die Welt, dank seiner Hilfe, soweit verwandelt haben, dass selbst unser Leib ganz durchlichtet ist. So schenkt er uns nach und nach einen immer größeren Anteil am ewigen Leben. Dabei ist unser Glaube die Kraft, die seinem Geschenk entgegenkommt:
Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. (Joh 11, 25f).