Auseinandersetzung mit der Schwere

AutorIn: Ruth Ewertowski

Wenn wir an die beiden Gegensätze zum Licht denken – an Finsternis und Schwere –, scheinen wir uns mit ihnen auf den ersten Blick in zwei völlig verschiedene Richtungen zu begeben. So steht die Finsternis in einem konkret natürlichen Gegensatz zum Licht, während die Schwere in einem metaphorischen zu ihm steht. Stellen wir nämlich dem Licht die Schwere gegenüber, dann verstehen wir auch das Licht mehr in einem übertragenen Sinne: Es öffnet die Seele, der Sinn weitet sich, alles Belastende schwindet. Wir leben auf und fühlen uns auf einer seelisch-geistigen Ebene wohl, auch wenn es auf der leiblichen Gebrechen gibt.

Und doch gehören auch alle drei, das Licht, die Schwere und die Finsternis zusammen, und zwar in einer Weise, die uns den Übergang zwischen dem Natürlichen einerseits und dem Seelisch-Geistigen andererseits spüren lässt. Hier ist zunächst einmal erstaunlich, dass der mehr metaphorische Gegensatz von Licht und Schwere einen naturwissenschaftlichen Hintergrund hat, der in einer Hinsicht eine Ähnlichkeit sichtbar werden lässt, nämlich im Hinblick auf ihre zeitliche Ausbreitung. Dabei ist nicht an das Licht der Farbenlehre Goethes, sondern an das sich in Wellen ausbreitende der gewöhnlichen Naturwissenschaft gedacht. Was Einstein 1916 annahm, hat man 2002 im Experiment bestätigen können, nämlich, dass sich die Schwerkraft mit derselben Geschwindigkeit ausbreitet wie das Licht. So besteht auch auf gängiger naturwissenschaftlicher Ebene eine Beziehung zwischen Licht und Schwere. Diese Beziehung ist damit also nicht auf die metaphorische Ebene beschränkt. Das verbürgt auch von dieser Seite her die Zusammengehörigkeit der Welten. Vorrangig erfahren wir diese Zusammengehörigkeit aber von ihrer geistigen Seite und in metaphorischer Darstellung. Hier erleben wir allerdings eine Ähnlichkeit nicht zwischen Licht und Schwere, sondern zwischen Schwere und Finsternis. Die Finsternis ist stets unten und sie lastet. Damit beginnt schon die Schöpfungsgeschichte:

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.

Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. (1 Mose 1,1ff)

Das Geschiedene aber gehört zusammen – wie eben Tag und Nacht. Und entsprechend gehören auch die Leichte und die Schwere zusammen. Das erleben wir jeden, die Nacht umfassenden, Tag am eigenen Leib. Und wir erleben es in unserem Leben in den Zeiten, in denen wir nahe an der Schwelle stehen: Der Mensch ist das Wesen – und damit unterscheidet er sich von allen anderen Wesen –, welches sich aufrichten kann, das der Schwere der Horizontalen die Leichte der Vertikalen entgegensetzen kann. Eben das tut er, wenn er ins Leben, in den Tag, ins Licht tritt. Das kleine Kind ringt mit der Schwerkraft und richtet sich auf; der aus dem Schlaf Erwachte reibt sich die Augen, schaut ins Licht und steht auf. Der Sterbende legt sich nieder, so wie der Müde zu Bett geht.

 

Es ist schon verwirrend, aber hält unseren Blick offen, dass sich dabei die Metaphorik, die sich uns unmittelbar aufdrängt und die auch nicht falsch ist, eine Brechung erfährt: Denn für gewöhnlich stellen wir Schwere, Finsternis und Böses der Leichte, dem Licht und dem Guten, ja der Gnade gegenüber. So ist die Uropposition bei der Mystikerin Simone Weil die von Schwerkraft und Gnade. Auf der anderen Seite aber bedeutet das tagwache bewusste Leben im Licht ein fortwährendes Zerstören der leiblichen Kräfte, die in der Finsternis der Nacht wiederaufgebaut werden.1 Auch ist die Nachtseite des Lebens wie das Jenseits diejenige, die der Sphäre des Geistes angehört, und dennoch leben wir nur am Tag und im Diesseits in der Sphäre der Freiheit und Moralität. – All das mag komplex sein, fordert uns aber gerade ins Licht der Erkenntnisbemühung, in der wir uns mit der Schwere auseinandersetzen.

 

1  Vgl. hierzu auch Rudolf Steiners Vortrag vom 21.8.1910: Licht und Finsternis. Jom und Laj´lah in: Die Geheimnisse der biblischen Schöpfungsgeschichte, GA 122