Licht und Finsternis – von der Polarität zur Trinität

AutorIn: Michael Bruhn

Ist das Licht gut und die Finsternis böse? Ganz so einfach kann es wohl nicht sein, wir kennen ja auch Licht, das uns blendet und Dunkelheit, die uns Geborgenheit verleiht. Das gilt sogar für die Finsternis der Hölle, denn »Hölle«, »Höhle« und »Hülle« haben im Deutschen eine gemeinsame Wurzel: umhüllen, verbergen, aufnehmen: Die Hölle war das, was die Toten aufnahm und umhüllte. Mit der Finsternis können wir Geborgenheit oder Furcht und Angst verbinden, mit dem Licht Erkenntnis oder Blendung und Blindheit. Dennoch: wenn wir Religionen und Philosophien befragen, oder auch nur unser eigenes Sprachgefühl, so werden gute und göttliche Kräfte viel stärker mit dem Licht, alles Bedrohliche und Dämonische viel stärker mit der Finsternis verbunden. Und dass das Licht unserer Sonne alles Leben erst ermöglicht, ist in allen religiösen Zusammenhängen ebenso im Bewusstsein. Das ist sogar in südlichen Gegenden der Fall, in denen die Menschen sich vor Hitze und Sonnenlicht zu bestimmten Tageszeiten schützen müssen und die Sonne keineswegs durchgehend das positive Grundgefühl erzeugt, das wir ihr in unseren nördlichen Breiten entgegenbringen.

Vor allem leben wir ja mit dem Rhythmus von Tag und Nacht. Wir leben mit dem Grundvertrauen, dass die beiden sich abwechseln, dass auf den Tag die Nacht folgt und auf die Nacht der Tag, wir verschließen im Schlaf unsere Augen dem Licht und öffnen uns ihm wieder im Erwachen. Auch das ist ein Vertrauen gebender Rhythmus, der Rhythmus von Schlafen und Wachen. Jede Störung dieses Rhythmus kann uns krank machen oder sie kann die Folge einer Krankheit sein. Es geht uns gut, wenn wir uns auf ihn verlassen können.

Unzählige Bilder in unserer Sprache haben mit Licht und Finsternis zu tun, und auch hier ist es so, dass wir das Licht meistens mit Freude, Klarheit, Erkenntnis und Güte verbinden, die Finsternis mit Angst, Verwirrung, Unwissenheit und mit dem Bösen.

Wenn nun aber im sozialen Zusammenleben jemand die Welt zu eindeutig in Gut und Böse unterteilt, entstehen auch wieder Fragen. Kann es Menschen geben, die nur gut oder nur böse sind oder handeln? Ist nicht alles in der Welt viel zu kompliziert, um so eindeutig zu urteilen? Wenn eine religiöse Gemeinschaft sich »im Lichte« wähnt, ganz auf der Seite des Guten, und die Feinde des Guten alle außerhalb der eigenen Gemeinschaft lokalisiert, dann liegt der Begriff der Sekte nicht fern. Wir erleben uns doch eher als gemischte Wesen, mit inneren Widersprüchen, auf einem Entwicklungsweg, aber gerade deshalb als unvollständige, noch unfertige Wesen.

 

Im Kultus der Christengemeinschaft gibt es einen Augenblick, in dem die Priesterin oder der Priester – stellvertretend für die Gemeinde – von sich spricht als von einem »unwürdigen Geschöpf«. Dies geschieht am Anfang der Opferung, dort, wo es um eine anfängliche Begründung dafür geht, dass die folgende Opferhandlung überhaupt stattfinden soll. Dieses Wort vom »unwürdigen Geschöpf« ruft nach meiner Erfahrung bei Teilnehmenden mit unterschiedlicher religiöser Vergangenheit die verschiedensten Reaktionen hervor. Die Unwürdigkeit und Sündigkeit des Menschen ist ja in manchen religiösen Traditionen so überbetont worden, dass diese Überbetonung gar kein gesundes Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen mehr entstehen ließ. Wer in seiner Vergangenheit, ob bewusst oder unbewusst, an so etwas leiden musste, kann über diese Selbstbezeichnung in der Weihehandlung regelrecht wütend werden. Andere wiederum zucken eher mit den Schultern und sagen sich »niemand ist perfekt, ist doch klar!« oder »so weit sind wir eben noch nicht, dass wir würdig vor dem Göttlichen bestehen können«.

Religionsgeschichtlich beginnt das menschliche Gefühl der Unwürdigkeit vor den moralischen Forderungen einer göttlichen Instanz mit dem Übergang von einer naturverbundenen Religion zum Monotheismus, das heißt vor allem mit dem Judentum. Ein guter Teil des ganzen Alten Testaments, der Thora (der fünf Bücher Moses), aber auch der Prophetenbücher, besteht aus dem immer wieder von Rückschlägen unterbrochenen Versuch, das althebräische Volk zu dieser neuen Denkweise zu erziehen. Die umgebenden Völker dürfen weiterhin das Göttliche in der Natur erleben und durch eine Vielzahl von Göttern repräsentiert finden, und diese Denkart bleibt attraktiv. Das entstehende jüdische Volk soll aber im Denken einen Schritt in die Abstraktion gehen und nur einen einzigen Gott erleben, der die Welt geschaffen hat, sie aber seitdem nach festen Naturgesetzen ablaufen lässt. Nur noch gelegentlich, zum Wohle seines auserwählten Volkes, durchbricht er diese Naturgesetze. Dieser Gott offenbart sich zwar anfangs am Berg Sinai noch in den Naturgewalten, aber gleichzeitig beginnen mit den Zehn Geboten und allen weiteren göttlichen Gesetzen seine moralischen Forderungen zu wirken, deren Einhaltung schwerfällt. Das Bemühen, diese Gesetze einzuhalten, schafft Zusammengehörigkeit. Gleichzeitig aber entsteht dadurch ganz individuell ein mehr oder weniger starkes Erleben der eigenen Unzulänglichkeit.

In der Bewusstseinsevolution ist dies ein Schritt in Richtung Individualisierung. Bei einer solchen monotheistischen Denkweise hängt viel mehr vom eigenen Verhalten ab, als wenn man sich vor allem den Naturgewalten ausgeliefert erlebt. Auch wird schon im Alten Testament immer wieder der Gott Israels mit dem Licht assoziiert, vom Propheten Maleachi als »Sonne der Gerechtigkeit« bezeichnet (Kap. 3,20), oder das Licht wird mit der Weisheit in Verbindung gebracht. Sich von Gott zu entfernen, bedeutet »im Finsteren zu wandeln« (so z.B. bei Jesaja, 9,2: »Das Volk, das im Finsteren wandelt, sieht ein großes Licht«). Bei der Erschaffung des Lichtes im ersten Kapitel der Bibel am ersten Schöpfungstag tritt allerdings das Licht zunächst im Kontrast zum vorherigen Chaos (hebräisch: »Tohu wa bohu«) auf, weniger im Kontrast zur Finsternis.

 

Eine ganz andere religiöse Denkweise entwickelt sich aber zur gleichen Zeit in der altpersischen Kultur mit der Zarathustra-Religion: Hier erlebten sich die Menschen als hin- und hergerissen zwischen zwei entgegengesetzten göttlichen Mächten des Lichtes und der Finsternis, die miteinander im ständigen Kampf sind. Ein guter Gott, Ahura Mazdao, und ein schlechter Gott, Ahriman, kämpfen miteinander, sowohl draußen im Kosmos als auch in den Seelen der Menschen. Selbstverständlich ist es die Aufgabe des Einzelnen, sich auf die Seite des Lichtes zu stellen und für das Licht zu kämpfen, aber das ist eben nicht immer so einfach …

Und dann begegneten sich diese beiden Denkweisen in der Zeit vor dem Beginn des Christentums. Der persische Dualismus von Licht und Finsternis begegnet der individualisierten alttestamentlichen Moral. Der hellenistische Kulturraum, der aus dem zerbrochenen Reich Alexanders des Großen geworden ist, macht solche Begegnungen möglich. In dieser Umbruchzeit, die wir aus christlicher Sicht auch die Zeitenwende nennen, entstand eine Vielzahl von religiösen Erneuerungsbewegungen, von denen vor allem die der Essener auch im Neuen Testament im Hintergrund erkennbar wird. Für diejenigen, die der Finsternis entrinnen und sich dem Licht weihen wollten, entstanden in diesen Erneuerungsbewegungen neue Rituale, Einweihungsrituale, meist mit langer, intensiver Vorbereitung und einem Einweihungserlebnis, das an die Grenze des Todes führte, z.B. in Form des Untertauchens im Wasser, der Taufe. Das Leben eines solchen Getauften war anders als vorher, verwandelt durch das Licht, dem er in einer Art künstlichem Nahtoderlebnis begegnet war, es war nicht mehr mit seinem vorherigen Leben zu vergleichen. Manche dieser Bewegungen, wie die Essener, bemühten sich als »Kinder des Lichtes« vom Rest der Welt abzusondern und die »Kinder der Finsternis« draußen zu halten. Ein anderer, der Einzelgänger und Christusvorbereiter Johannes, bot das neue Einweihungsritual der Taufe allen Interessierten ganz individuell als Hilfe zur Neuorientierung, zum Umdenken an und hatte großen Zulauf, wie sich in den Evangelien ablesen lässt.

Ein Dualismus von Licht und Finsternis lässt sich einerseits so denken, dass die Schöpfung der Welt dem guten Gott oder einem über dem Guten und Bösen stehenden Wesen zugeschrieben wird und damit im Grunde eine gute Welt ist. Dies scheint in der älteren persischen Religion so gewesen zu sein. Später kommt – sicherlich verstärkt durch den Kontakt mit dem Judentum und seinem Verständnis einer geradlinigen Geschichte mit einem Anfang und einem Ziel, der Glaube an eine zukünftige Endzeit hinzu, für die der Sieg des Guten über das Böse erwartet oder erhofft wird.

Es gibt aber auch gleichzeitig einen »pessimistischen« Dualismus, der sich die Welt anschaut und zu dem Schluss kommt, dass sie schlecht sei. Sie muss, so unvollkommen und schrecklich wie sie sein kann, von einem bösen Gott geschaffen worden sein. Die Aufgabe ist dann, die guten Menschen, die noch einen Funken vom Licht des guten Gottes in sich tragen, zu sammeln und zu vereinigen, ihr Erkenntnisstreben zu fördern und den Sieg des Guten voranzutreiben. Diese Art von Erkenntnisbewegungen wurden später »Gnosis« genannt. Es gab sie innerhalb und außerhalb des Judentums, vor allem aber auch im beginnenden Christentum, wo dann Christus als der göttliche Abgesandte des guten Lichtgottes gesehen wurde, der seine Getreuen in dieser von bösen Dämonen beherrschten Welt zu sammeln versucht.

 

Auf lange Sicht aber schafft dualistisches Denken mehr Probleme, als es löst. Sicher, die Welt ist voller Polaritäten, die von Licht und Finsternis ist ja nur eine davon, vielleicht diejenige, die für uns in Verbindung mit der Polarität von Gut und Böse die größten Rätsel aufwirft. Aber wenn wir nur die Polarität betrachten, entstehen Bilder von Kampf und Konfrontation. Dann gibt es denkerisch wieder zwei polare Möglichkeiten. Beide haben ihre Berechtigung, aber sie lösen die Konfrontation nicht auf: In einem geradlinigen, eher westlichen Geschichtsverständnis lässt sich auf den Sieg der einen über die andere Polarität hoffen. In einem zyklischen, eher östlichen Geschichtsverständnis sind die Polaritäten ewig und unveränderlich, aber ihre Spannung hält den Kreislauf der Geschichte in Bewegung.

Das neu entstehende Christentum aber ging einen anderen Weg. Dieser Weg führt nach und nach weg von der Konzentration auf die Polaritäten und hin zu einem dreifachen Denken, zur Dreiheit, zur Trinität. Dieser Weg ist längst noch nicht abgeschlossen, das Verstehen der Trinität ist auch heute nicht vordergründig leicht. An der Polarität von Gut und Böse lässt sich aber z.B. zeigen, wie erlösend es sein kann, den Blick von der Polarität zu lösen und auf eine Dreiheit zu schauen, bei der es zu jedem Guten immer zwei »böse« Abweichungsmöglichkeiten gibt. Polares Denken bringt Klarheit, aber keine befriedigenden Lösungen. Trinitarisches Denken verlangt eine Art »Jonglieren« mit den zugehörigen Begriffen und ist dadurch weniger eindeutig, aber lebendiger.

Am Beginn dieser neuen »dritten« Denkweise, am Beginn des trinitarischen Weges, steht der Prolog des Johannesevangeliums. Auch hier ist von Licht und Finsternis die Rede, aber auf völlig neue Weise. Die ersten Christen hatten den Christus entweder selbst noch erlebt und waren ihm als dem Auferstandenen begegnet oder sie hatten diese Begegnung mit dem Auferstandenen durch das christliche Einweihungsritual, die Taufe. In ihm erlebten sie das Licht. Das Licht der Welt. Dieses Licht, so war ihr Erlebnis, bleibt nicht außerhalb der Welt, führt keinen äußeren Kampf gegen die finsteren Mächte. Das Licht der Welt löst sich aus der Polarität heraus, begibt sich selbst in die Finsternis hinein, liefert sich ihr aus und erlebt sie bis zur eigenen Verzweiflung im Sterben, stirbt in die Finsternis hinein und überwindet sie dadurch. Das ist ein ganz und gar paradoxer Gedanke, der aber die Polarität auflöst. Es entsteht die Dreiheit von Licht, Finsternis und neuem Leben. Damit ist noch nicht die ganze Welt erlöst und zum Licht geworden. Aber die ersten Christen erlebten sich als mit ihm gestorben, mit ihm auferstanden und mit ihm lebendig.

Sie erlebten sich als Kinder des Lichtes.

 

Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen. Es war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbe geworden; und die Welt kannte es nicht. Es kam in das Eigene; und die Eigenen nahmen es nicht auf. Die es aber aufnahmen, denen gab es Macht, Kinder Gottes zu werden. (Joh 1,9-12)