Bäume verstehen lernen

AutorIn: Jan Albert Rispens

Die baumlose, schier endlos erscheinende Landschaft kennen wir aus dem hohen Norden oder von oberhalb der Baumgrenze, am Berg.

In den feuchten Tropenwäldern dagegen, wird die gesamte Landschaft zum Baum, zum Kronen-Innenraum. Sogar die wenigen Kräuter wandern – samt Tierwelt – hoch oben in die »hängenden Böden« des allgegenwärtigen Blätterdachs.

In der traditionellen mitteleuropäischen Kulturlandschaft wechseln Mischwälder rhythmisch mit Weiden, Äckern und Dörfern. Der Waldrand und die eingrenzenden Hecken der Felder, mit ihrer Vielfalt an Sträuchern und Stauden, sind artenreiche und ausgeglichene Übergangsorte, wo es – anders als in der Tun­dra oder im Regenwald – angenehm zu verweilen ist.

Im Wald fühlt man sich als Mensch eingehüllt und geborgen, gewissermaßen aufgenommen und getragen von einem, auf unzähligen Säulen stehenden, grün-lebendigen Gewölbe. Als gestresster Zeitgenosse sucht man dieses Erlebnis des »Waldbadens« wieder bewusst und als Ausgleich. Einmal im Walde entsteht aber schon bald wieder das Bedürfnis, im Freien zu stehen, die freie Sicht zu genießen und sich einen Weitblick und Überblick über die Landschaft zu verschaffen. Aus beiden konträren inneren Erfahrungen kann man den Seelenzustand erahnen von Menschen, die ihr Leben einseitig im Regenwald verbringen oder die Tundra besiedeln.

Bäume schaffen Räume. Diese sind klein im Vergleich mit denen der Täler und Gipfel der Berge, die die Großlandschaft gliedern.

An freistehenden Bäumen kann man erleben, dass der erzeugte Raum – je nach Baum­art – qualitativ eine ganz charakteristische Gestalt annimmt. Mann klettere in eine Birke, eine Fichte oder eine Eiche und versuche, diese sehr unterschiedlichen Erfahrungen in Sprache zu bringen. Oder man steht im Sommer jeweils unter ihrer Krone, wenn eine Regenböe heranzieht, ein plötzlicher Wind Blätter und Zweige bewegt und das Wasser in Strömen herunterkommt ...

Die Schaffung von Raum ist kein »Thema« des Blütenkrautes; das bleibt Bäumen vorbehalten. Woher erlangen sie eigentlich diese Fähigkeit, wie lässt sie sich aus der Pflanzenwelt heraus verstehen?

 

Jeder Baum fängt sein Leben »krautig« als Jährling an. Im ersten Jahr entsteht – auf einer kräftigen Wurzel – ein kurzer Stängel mit wenigen Blättern, der, anders als beim Blütenkraut, am Jahresende verholzt und eine Winterknospe bildet. Blüten und Früchte fehlen. Manche unserer Waldbäume blühen zum ersten Mal nach 70 Jahren!

Im folgenden Frühling treibt unsere Baumknospe einen neuen Spross und in den darauffolgenden Jahren werden rhythmisch weitere Sprosse gebildet. So sprießt allmählich Raum auf. Damit ist aber nur das kumulative, lineare Längenwachstum angesprochen. Typisch für Bäume ist jedoch auch die fortschreitende Massenbildung, die aus einem dem Kraut unbekannten Dickenwachstum hervorgeht. Der immer-lebendige »Kambiummantel«, unter der Rinde, bringt alljährlich einen Holzring des massiv wachsenden Stammes hervor.

Wir haben es mit einer ganz eigenen Art von »Pflanzlichkeit« zu tun, die keine Blätter, Blüten oder Früchte hervorbringt, sondern in eine im Absterben begriffene, für die Sinne unzugängliche dumpfe Holzmasse hineinführt. So entsteht das dauerhafte Holzgerüst des Baumes, aus Stamm, Ästen und Zweigen, eingehüllt von ebenso nachhaltigen und robusten Organen; Bast und Borke.

Es ist angemessen, bei dieser Schöpfung von »Pflanzenmineral« oder »Mineralpflanze« zu sprechen, da sie mit ihrer ausscheidenden Tätigkeit eine Art »aufgestülpte Erde« in die Landschaft hineinsetzt.

Auf dieser aufgestülpten Erde wachsen die unzähligen Jährlinge und bilden zusammen mit ihr eine Überpflanze, den Baum. »Die Bäume scheinen unter allen Pflanzen die edelsten, weil ihre unzähligen Individuen so sehr mittelbar nur noch an der Erde hängen, und gleichsam schon Pflanzen auf Pflanzen sind« (Novalis). Die »Baumkräuter« bringen ihre eigene Erde hervor und sind über das gemeinsame Kambium lebendig mit- und untereinander verbunden.

 

Wir haben uns dazu befähigt, die Baumgestalt als echte Metamorphose eines mit Kräutern bewachsenen Stücks Erde verstehen zu können: Boden samt Pflanzenbewuchs müssen in die Luft hochgezogen und ausplastiziert werden. Die Kräuter vereinheitlichen sich dabei, und ihre Wurzeln wachsen zum Kambiummantel zusammen. Der belebte Humusboden selber wird zum strukturierten, wasserführenden »Splintholz», die tieferen Bodenschichten zum mineralisierten »Kernholz».

Das Bild ist aber noch nicht fertig. Auch das »Baumkraut« macht im Vergleich zum Erdenkraut eine Verwandlung durch. Es wird erst blühfähig, wenn die aufgestülpte Erde Gestalt und Mächtigkeit eines Baumes angenommen hat. An unseren Waldbäumen sehen wir aber, dass dieses Blühen eher unauffällig bleibt – wer kennt schon das Blühen der Eiche, der Tanne oder der Birke? – und stattdessen sich die Fruchtbildung stärker in den Vordergrund stellt. Nur bei Bäumen sprechen wir diesbezüglich von einem »Mast«. Fast unser gesamtes Obst und unsere Nüsse stammen von Bäumen (und Sträuchern). Was spricht sich darin aus?

 

Mit der Frucht – man denke dabei an eine Bohnenfrucht; ein »zugeklapptes Blatt« – schafft die Pflanze sich ein Hohlorgan, das gewöhnlich der Tierbildung zugrunde liegt, und zieht dabei das Seelische dichter an sich heran, ohne das Organ aber selber beseelen zu können.

Die bevorzugt bei Bäumen vorkommende Bildung von Galläpfeln weist auch auf eine Annäherung des Baumkrautes an das Tier hin. Es braucht nur einen geringen tierischen Anreiz, in der Gestalt des hineingelegten Wespeneies, und der Baum bringt ein ihm fremdes Fruchtorgan hervor, das keine Samen enthält, sondern ganz im Dienste der Larvenentwicklung steht.

Die landschaftsprägende Herbstfärbung der Bäume ist ebenso Ausdruck des Heranziehens des Astralischen an die Krautpflanze. Wir haben es beim Baumkraut eindeutig mit »Tierpflanzen« zu tun!

So kommen wir zu einem eigentümlich Bild des Baumes; eine vereinheitlichte Kolonie von astralisierten Pflanzen die ihre eigene, halblebendige Erde hervorbringen und eine Überpflanze, eine kleine, selbständige »Landschaft in der Landschaft« bilden.1

Genau dieses Bild finden wir in den Schilderungen eines Entwicklungsstadiums ­unserer Erde, das Rudolf Steiner in seiner Geheim­wissenschaft im Umriss »Alter Mond« nennt. Seine untersten Naturreiche bildeten »Zwischenreiche« – Pflanzenmineral und Tierpflanze –, und wir lernen den Baum als miniaturisierte Reminiszenz dieser Entwicklungsstufe verstehen.

Erst das unmittelbar im Humusboden wurzelnde Erdenkraut stellt eine moderne, entmischte und dadurch reine Pflanzenform dar; der Baum ist Atavismus einer lang vergangenen Zeit. Baumfossilien findet man tatsächlich in weit älteren Gesteinsschichten als die evolutionär jüngeren Blütenkräuter.

Der Baum bekommt durch das eng an sich herangezogene Seelische eine weitgehend autonome Lebensorganisation, die stark von ihm geprägt ist. So kommt in seiner Wuchsform ein einheitlicher Stil zum Ausdruck, der sich beschreiben und erkennen lässt und sich in jeder Einzelheit kundtut.

Beim Bergahorn lässt sich die »ästhetische Geometrie« nicht nur in der symmetrischen Handform des Blattes, sondern ebenso in seiner strengen Kreuzgegenständigkeit am Zweig oder in der präzisen kegelförmig rotierenden Fallbewegung der Propellerfrüchte finden. Auch die feine helle Holztextur, der im Frühlingsholz fließende, süße »Ahornsaft« oder das lebhafte Borkenmuster kann als Ausdruck dieses Motives erkannt werden.2

Die Tatsache, dass beim Fällen alter Bäume menschliche Emotionen hochgehen, macht noch auf einen mehr verborgenen Aspekt des Baumes aufmerksam. Bäume bringen es zu den größten und ältesten Lebewesen auf Erden. Bei ihnen gerinnt die Zeit buchstäblich zum Raum. Vor einem jahrhundertealten Baumriese fängt der persönliche Lebenslauf leise mitzuklingen an, und die ewige Individualität glimmt in ihm zur ahnenden Erfahrung auf.

 

In der Schöpfungsgeschichte aller Erdenvölker spielt der Weltenbaum – Yggdrasil in der germanischen Mythologie – eine zentrale Rolle. Auch der Vertreibung aus dem Paradies ging das verführte Essen der verbotenen Frucht des Baumes der Erkenntnis voran. »Da wurden ihre Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren …«

Der Weltenbaum verbindet Himmel und Erde, wie auch der ursprüngliche, gottgeschaffene Mensch, als »Bürger zweier Welten«. Das Essen von der Baumfrucht machte zwar zum sinnlich erkennenden, selbstbestimmten Wesen, die Tür zum »Baum des Lebens« bleibt aber noch so lange verschlossen, bis alle Egoität sich in Individualität veredelt hat. Dann hat der Mensch seinen inneren Baum aufgerichtet und kann – selbstbestimmt – wieder in beiden Welten verkehren.

Das ist die Grundvoraussetzung dafür, heute aus innerer Freiheit heraus, verantwortungsvoll und »umweltbewusst« leben und handeln zu lernen. Die sozialen und die ökologischen Fragen sind auf Erden schreiend geworden und flehen um kreative Antworten in der Gestalt von weiterführenden, heilenden Taten aus einem wirklich spirituellen Verständnis von Mensch und Welt.

Der Mensch ist kein überflüssiges Naturprodukt, sondern der »Baum«, der Himmel und Erde wieder in Einklang bringen kann.

Die mächtigsten (Sequoiadendron giganteum) und ältesten (Pinus longaeva) Bäume sind auf dem amerikanischen Kontinent zu finden, da wo die Kräfte der Erde sich am stärksten manifestieren. Das Holzvolumen von General Sherman, dem voluminösesten lebenden Baum der Erde, wird auf 1500 m3 geschätzt, ausreichend um ein Einfamilienhaus 150 Jahre zu heizen. Auch daraus wird sichtbar, wie der Baum die Sonne willenshaft an seine aufgestülpte Erde bindet und zum Vermittler von Erde und Kosmos wird.

Wenn in den Tropen die Sonnenwärme gründlich die Erde durchdringt, verlagert sich sämtliches Leben in die ausladenden Baumkronen. Wenn in arktischen Gegenden die Sonne die Erde nur mit ihrem Lichte streift, erhebt sich kein Baum mehr und zieht sich das gesamte Leben im Boden zurück. Wir haben es hier mit dem Kopfpol der Erde zu tun. Es herrschen – außer Kälte – Stille, Langsamkeit, Erstarrung und Klarheit. Die Tropen bilden den Stoffwechselpol der Erde. Dumpfe und brütende Wärme wirkt im Dunkeln, ständig Lebensprozesse anfeuernd. In den gemäßigten Gegenden der Erde wirkt der dynamische Rhythmus, immerfort ausgleichend und harmonisierend.

Gerade hier entwickeln sich die menschliche Kultur und die ihm zugehörige Kulturlandschaft3 am leichtesten. Die Erde als Lebewesen und der Mensch sind aus einem großen, gemeinsamen Schöpfungsgeschehen hervorgegangen. Allerdings sind wir heute an einem Punkt angelangt, wo es davon keine natürliche Fortsetzung mehr geben kann. Die Menschheit ist in Freiheit entlassen und dazu aufgerufen, seine weitere Entwicklung und damit zugleich die Entwicklung der Erde selber in die Hand zu nehmen. Die entscheidende Frage dabei ist, ob es ihr gelingen wird, das versteckte Potential innerhalb der Schöpfung, die geistige Keimkraft in der Natur und in sich selber, als neues sinnlich-übersinnliches Bewusstsein zu mobilisieren, zum Lebensbaum auswachsen zu lassen.

Dieser Weg führt an zwei kulturbildende Schwellenerlebnisse heran – die Schwelle zur sinnlichen Außenwelt und die Schwelle zum eigenen Selbst. Die zwei tragenden Grundfähigkeiten unserer Kulturepoche, die sich im Umgang mit beiden Schwellen entwickeln werden, charakterisiert Rudolf Steiner4 als »das Finden zu den reinen Phänomenen (Urphänomenen)« in der Sinneswelt und »das Entwickeln von freien Imaginationen« aus sich selber heraus.

Auf künstlerische Art bringt er das Atmende dieses Rätsels Lösung so zum Ausdruck:

Suche im Innern das Lichtvolle

Und du findest die Welt;

Suche im Äußern das Sinnvolle

und du findest dich selbst.

So wird die Frage nach dem Baum eine Suche nach Selbsterkenntnis, und so verhelfen unsere tieferen inneren Erlebnisse zum Verständnis des Baumes.

 

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1  Weiter ausgearbeitet in meinem Buch Bäume verstehen lernen

2  Weiter ausgearbeitet in meinem Buch Bäume sprechen lassen

3  In der Seminarwoche »Die Landschaft der Karawanken« geht es um einen vielfältigen, goetheanistischen Zugang (www.anthrobotanik.eu)