Dass durch dich ein oder zwei Menschen besser sich glücken (1)

AutorIn: Stefanie Rabenschlag

Ob Luis den Erdenort im Blick hatte, wo er ankommen wollte?
Er sah etwas leichtfüßig neben sich seine Zwillingsschwester Elisa, die auch bereit war. Ihre zukünftigen Eltern kannten sich erst seit kurzem, die erste Gelegenheit, die sich bot, nutzte das Zwillingspaar und sprang. Hinein in die Vorgabe eines Leibes, einer körperlichen Verfasstheit. Hinein in eine Plazenta, in deren Schleimhaut in hoher Konzentration Nikotin lagerte. Auch die Lungen der Zwillinge reicherten sich nach und nach mit den Toxinen an. Diazepam – kann beim Kind zu Fehlbildungen und mentalen Einschränkungen sowie zu Entzugssymptomen wie Atembeschwerden, erschlafften Muskeln und Trinkschwäche führen – gab es dort auch. Es gelangte über den Mutterkuchen zu den Ungeborenen. Die beiden wohnten nicht lange in diesem ersten Haus. Elisa ging voran, blieb eine Stunde auf der Erde leben und verabschiedete sich gleich wieder. Ihr Bruder wartete noch drei Wochen bis zu seiner frühen Geburt. Er atmete nicht. Eine schier endlose Reihe medizinischer Maßnahmen und Medikamentenverabreichungen füllen die Krankenakte seiner ersten Monate, Maßnahmen, die die meisten Menschen in einem ganzen langen Leben nicht ertragen müssen. Außer der pflegerischen Versorgung durch Ärzte und Krankenschwestern war Luis sich selbst und den Geräten überlassen, an denen er hing. Nach einigen Monaten hätte er vielleicht entlassen werden können. Aber da nicht klar war, wohin, wechselte er zunächst nur das Krankenhaus. Die Ärzte hatten mittlerweile das Jugendamt auf den Plan gerufen, das nun für Luis einen Ort zum Leben suchte und Menschen für ihn. Hätte da, mit sieben Monaten, das Glück beginnen können? Konnte endlich eine sichere, wohlige Hülle für ihn entstehen? Langsam schlief und entwickelte Luis sich hinein in den zweiten »Bauch«, nach Wochen ein erstes Lächeln, das wie sein Weinen lange stimmlos blieb, so dass er wach und schlafend immer in unmittelbarer Nähe der neuen Mutter war. Die Störung setzte diesmal an einer anderen Stelle an. Ein gerichtlich bestellter Gutachter besah das kleine Wesen und seine Herkunft und befand, man könne ausprobieren herauszufinden, wo Luis denn zu leben habe. Man probierte aus. Luis war keine Puppe, sondern ein Kind. Aber wie eine Puppe wurde er testhalber von Ort zu Ort gebracht, wurde sein Fall von Termin zu Termin besprochen, umkämpft, wieder vernachlässigt und dann nach über zwei Jahren des Ausprobierens entschieden, dass es nun doch für das Kindeswohl besser sei, ihn bei der neuen Mutter zu belassen. Da war Luis fast drei Jahre alt. In die nächste Zeit seines Lebens trug er die Wunden dieser drei Jahre hinein, trägt sie offen an sich, aufgerissen und aufreißend zugleich. Und wenn es gut geht, lernt seine neue Mutter immer besser seine Wundsprache zu verstehen und zu beantworten. Das wäre ein Glück.

 

(1.  Aus dem Gedicht »Glückwünsche« von Kurt Marti)