Musikalische Wachsamkeit

AutorIn: Ralph Nickles

Wachet auf«, ruft uns die Stimme,

Der Wächter sehr hoch auf der Zinne,

»Wach auf, du Stadt Jerusalem!«

Mit diesen erweckenden Worten beginnt das bekannte Kirchenlied von Phillip Nicolai (1599). Dem Text liegt das Gleichnis von den zehn Jungfrauen, die sich auf das Kommen des Bräutigams vorbereiten, zugrunde (Mt 25), wobei der Text zunächst einmal darauf anspielt, dass es gilt, nicht den rechten Zeitpunkt zu verpassen, gut vorbereitet und wachsam zu sein. Durch seine unverwechselbare Melodie, die an ein Trompetensignal oder eine Fanfare erinnert, setzt das Lied die Idee der Wachsamkeit in eine unmittelbar verständliche musikalische Geste um.

Am 25. November 1731 führte J. S. Bach seine gleichnamige Kantate erstmals in Leipzig auf. Der Orchestersatz des Eingangschors vermittelt mit seinen prägnanten Rhythmen und raschen melodischen Bewegungen einen unmittelbaren Eindruck davon, wie sich Geschäftigkeit, freudige Erwartung und Aufregung innerhalb der Hochzeitsvorbereitungen anfühlen können, wobei auch mahnende Rufe des Chors (»wach auf«, »macht euch bereit«) nicht fehlen dürfen.

 

Im bildhaften Liedtext wird aber zugleich der Blick auf den inneren Kern des Geschehens und somit auf das Wesentliche gelenkt: Bräutigam und Braut sind niemand anderes als Christus und die Seele (»Nun komm, du werte Kron, Herr Jesu, Gottes Sohn!«). Auch diesen Aspekt vermitteln Bach und sein unbekannter Textdichter anschaulich, indem die Mystische Hochzeit ihre angemessene künstlerische Gestalt in Form einer sogenannten Dialogkantate findet: Zwischen den drei Strophen des Chorals erklingen zwei Duette, wobei dem Sopran die Rolle der Seele und dem Bass die Rolle des Christus zugeteilt werden. Das innerlich-mystische Geschehen wird also wie auf die Bühne gebracht und dadurch sichtbar und erlebbar. Bräutigam und Braut, Himmel und Erde streben aufeinander und auf ihre Vereinigung zu. Im ersten Duett ist die Stimmung noch von Sehnsucht und Hoffnung geprägt (»Wann kommst du, mein Heil?« – »Ich komme, dein Teil.«). Schließlich aber nimmt der Bräutigam die Braut zu sich, und so mündet die Kantate in ein tänzerisches und heiteres Liebesduett, worin die Verschmelzung von Seele und Christus, von Himmel und Erde bejubelt wird, ein Zustand, für den man früher das schöne Wort Seligkeit fand (»Mein Freund ist mein – und ich bin sein – die Liebe soll nichts scheiden«). Choral und Kantate zeigen uns also, in welche Richtung wir bei der Frage nach Wachsamkeit im religiösen Sinn blicken müssen: Sie ist eine innere Qualität und stellt somit die womöglich entscheidende Frage an die Seele dar, nämlich ob und wie sie eine Geistesbegegnung – hier im Bild der Hochzeit – fassen kann. So heißt es abschließend bei Mt 25: »Darum wachet; denn ihr wisset weder Tag noch Stunde, in welcher des Menschen Sohn kommen wird.« Diesen Moment der Begegnung kann Bach mit musikalischen Mitteln im Hörer zu Empfindung, Anschauung und Erlebnis werden lassen.

 

Man kann derartige Überlegungen zu einer möglichen Darstellung von Wachsamkeit in einem Kunstwerk aber auch ausweiten und feststellen, dass der musikalische (wie allgemein jeder künstlerische) Prozess an sich ein unmittelbarer Ausdruck von Wachsamkeit und Aufmerksamkeit darstellt. Wir müssen dazu lediglich den ausübenden Musiker betrachten.

Denken wir einmal darüber nach, welche vielfältigen Elemente beim Spielen eines In-struments in Übereinstimmung gebracht werden müssen, zum Beispiel bei einem Streichinstrument: die korrekte Auflage der Finger, Gewicht und Fluss des Bogens, das rechte Verhältnis von Spannung und Entspannung, muskuläre Koordination und Reaktion, Zusammenspiel vieler Sinnesqualitäten wie Tasten, Gleichgewicht, Hören, Eigenbewegung. Hinzu treten noch musikalische Vorstellung und Phantasie, also Empfindungen, die durch die körperlichen Vorgänge hindurch ihren Weg in die Hörbarkeit finden möchten. Trotz einer physiologischen und gedanklichen Analyse wird ein Teil, wenn nicht sogar der größte Teil dieser Abläufe dem Bewusstsein verborgen bleiben müssen. Denn wer kann schon sagen, dass er weiß, wie eine Bewegung zustande kommt, oder das er weiß, wie die Vorstellung ihren Weg über die Muskulatur in den Klang findet und dass er alles bewusst ausführen könnte? Das Eingreifen des Willens in den Leib bleibt uns doch weitgehend rätselhaft.

Die Erfahrung lehrt hingegen, dass man sich, je stärker man seinen Willen und/oder seinen Verstand einsetzt und je mehr man sich bemüht, umso leichter von der Einheit aller genannten Faktoren verabschiedet und sich statt in fließender Koordination in Verkrampfung wiederfindet.

 

Der wachsame Musiker befindet sich in einem merkwürdigen Zustand zwischen dem Willen zur Gestaltung und der Beobachtung dessen, was gerade körperlich-musikalisch-klanglich geschieht und auf ihn zurückwirkt. Wer beeinflusst da tatsächlich wen? Der Musiker den Klang – oder Musik und Klang den Musiker? In diesem wachen und aufmerksamen Zustand einer zugleich schöpferisch-tätigen und wahrnehmend-empfangenden Einheit fühlt man sich zugleich aktiv und passiv, sowohl ausführend als auch geführt, und zwar so, als würden solche Gegensätze zusammenfallen und sich dadurch auflösen. Mühelosigkeit und Leichtigkeit treten dabei zwangsläufig auf und lassen das Musizieren zu einem Spiel im eigentlichen Sinn werden. In Anlehnung an Yehudi Menuhin könnten wir diesen Schwebezustand auch als Improvisation bezeichnen, denn wir müssen uns spielerisch-reagierend und nicht bestimmend-kontrollierend verhalten. Dieser schwebende und labile Zustand zwischen Hervorbringen und Empfangen ist nur in der absoluten Gegenwärtigkeit zu finden und zu halten, denn sobald sich der eigene Wille in den Weg stellt, verschwindet das Erleben der Einheit wieder. Kann ich die Gegenwärtigkeit in beobachtender Wachsamkeit halten, können hingegen Gefühle des Glücks und der Verbundenheit auftreten, wobei wir gerne wieder auf das herrliche Wort der Seligkeit, in der unsere Seelenkräfte Hochzeit feiern, zurückgreifen dürfen.

 

Kehren wir nun wieder zu einem konkreten Musikwerk zurück. Es gibt eine Oper, die genau diesen Moment der musikalischen Wachsamkeit in Szene setzt und die inneren Prozesse der Seele in Gestalt zweier Musiker (!) auf die Bühne bringt. In »Ariadne auf Naxos« haben Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss ein Werk geschaffen, das die Herausforderungen einer wachsamen Seele und die Ekstase einer geglückten vollständigen Anwesenheit im Moment lebendig werden lassen.

Wir befinden uns im 18. Jahrhundert in einem Palais in Wien. Der Komponist fiebert der Uraufführung seiner heroischen Oper »Ariadne« entgegen. Er verkörpert durch seinen Idealismus und moralischen Anspruch seelische Kräfte, die sich nicht ganz mit dem Leben verbinden können und etwas abgehoben wirken. Nach seiner tragischen Oper soll nun zu seinem Entsetzen ein heiteres Nachspiel mit einer venezianischen Komödiantentruppe, deren Anführerin die Sängerin und Tänzerin Zerbinetta ist, gegeben werden, um das Publikum bei guter Stimmung zu halten. Damit werden innere Strenge, Ernst und Idealismus mit äußerlichem Vergnügen, Oberflächlichkeit und Belanglosigkeit konfrontiert – zwei Tendenzen, die in der Seele verbunden werden müssen. Der Komponist wird durch diese Situation an seine existenzielle Grenze geführt (»Das Geheimnis des Lebens tritt an sie heran, nimmt sie bei der Hand, und sie bestellen sich eine Affenkomödie, um das Nachgefühl der Ewigkeit aus ihrem unsagbar leichtfertigen Schädel fortzuspülen! – Das erlebt zu haben, vergiftet mir die Seele für immer.«)

Wie oben angedeutet führt künstlerische Wachsamkeit zu einem Zustand der unmittelbaren Gegenwärtigkeit, in der sich die Gegensätze von Wollen/Bestimmen und Hingabe/Empfangen, von Kontrolle und Zulassen zu einer Einheit verbinden können. Unsere beiden Protagonisten werden vom Schicksal in eine überraschende Prüfungssituation gebracht, in der eine solche Wachsamkeit verlangt wird: Der Veranstalter befiehlt wenige Minuten vor Beginn der Aufführung, dass Oper und Komödie nicht nacheinander, sondern gleichzeitig gespielt werden sollen. Die unterschiedlichen Seelenkräfte der beiden Musiker müssen sich also zu einer Einheit verbinden, um in der Realität eine Aufführung zu erschaffen. Da keine Zeit für Überlegungen bleibt, kann nur das wache Ergreifen des Augenblicks – die spielerische Improvisation – die Rettung sein. Auf dieses Geheimnis wird zunächst humorvoll hingewiesen, indem über Zerbinetta gesagt wird: »Sie ist eine Meisterin im Improvisieren; da sie immer nur sich selber spielt, findet sie sich in jeder Situation zurecht.« Doch durch diese oberflächliche Anwendung bisher scheinbar bewährter Methoden entwickelt die Seele noch keine neue Kraft.

 

Die Lösung zeigt sich schließlich im persönlichen Aufeinandertreffen von Komponist und Zerbinetta, in der unmittelbaren Begegnung der Seelenkräfte, wo ein Blick alles ändert: Die beiden verlieben sich, begeben sich also zumindest ideell auf den Weg zur Hochzeit. In diesem alles verändernden Augen-Blick offenbaren sie sich gegenseitig ihre Wesenszüge und enthüllen einen Teil ihrer Wahrheit. So singt Zerbinetta: »Auf dem Theater spiele ich die Kokette, wer sagt, dass mein Herz dabei im Spiele ist? Ich scheine munter und bin doch traurig, gelte für gesellig und bin doch so einsam.« Und der Komponist beschreibt an anderer Stelle das Wesen seiner Opernfigur Ariadne (und damit wohl auch sich selbst), die auf den Gott Bacchus trifft, den sie für den Todesgott hält: »Einzig nur darum geht sie mit ihm – auf sein Schiff! Sie meint zu sterben! Nein, sie stirbt wirklich. Sie gibt sich dem Tod hin – ist nicht mehr da – weggewischt. – Stürzt sich hinein ins Geheimnis der Verwandlung – wird neu geboren – entsteht wieder in seinen Armen! – Daran wird er zum Gott. Worüber in der Welt könnte eins zum Gott werden als über diesem Erlebnis?«

Das Geheimnis der Verwandlung – hier im Bild des Mystischen Todes –, das später auf der Opernbühne dargestellt werden soll, findet also tatsächlich statt in diesem einen Augenblick der wachen Gegenwart, in der unmittelbaren Begegnung! Komponist und Zerbinetta werden zu einer Einheit, die eine Person wird zugleich zur anderen, und Zerbinetta darf dieses Geheimnis mit so einfachen Worten ausdrücken: »Du sprichst, was ich fühle.«

Strauss beschreibt diesen berückenden Moment durch einen seiner genialsten melodischen Einfälle. Eine mehr oder weniger unsingbare Melodie (versuchen Sie es!) lässt ahnen, wie sich die Seele nahezu auflöst, verändert, verwandelt, erhebt und alles umfasst:

 

Aus dieser Vereinigung der Seelenkräfte, aus dieser mystischen Hochzeit erwächst zum einen die Kraft, mutig die Prüfungen des Lebens zu bestehen, wofür die sich anschließende gleichzeitige Aufführung von Oper und Komödie ein Bild sein kann. (In Strauss’ Oper vermag der Komponist seinen wachen Zustand allerdings noch nicht ganz zu halten.)

Es erwächst zum anderen aus diesem Erleben der Einheit heraus aber auch die Möglichkeit, einen Blick auf Zusammenhänge richten zu können, die dem Menschen eben oft nur in solchen wie entrückten Augenblicken möglich sind, eben nur in der Seligkeit. Der so beglückte Komponist kann dann ausrufen:

 

Mut ist in mir, Freund. – Die Welt ist lieblich und nicht fürchterlich 

dem Mutigen – und was ist denn Musik?

[mit fast trunkener Feierlichkeit]

Musik ist eine heilige Kunst, zu versammeln alle Arten von Mut

wie Cherubim um einen strahlenden Thron!

Und darum ist Musik die heilige unter den Künsten!