Wach bleiben!

AutorIn: Michael Bruhn

Nicht jeder hat so eine erfolgreiche Geschäfts­idee wie die Erfinder der »Entrückungsversicherung für Haustiere.« Ursprünglich wohl eher aus einer Laune heraus als Satire gedacht, hat sie sich in England und vor allem in den USA tatsächlich etabliert. In bestimmten Kreisen evangelikaler Christen besteht der Glaube an eine direkte Entrückung der wahren Christen in den Himmel, bevor die »große Drangsal«, die Endzeit der Welt beginnt. Es gibt zwei Verse im ersten Brief des Paulus an die Thessalonicher, die diesen Gedanken nahelegen, wenn man sie in einer bestimmten Weise wörtlich nimmt (1. Th 4,16/17). Leider steht aber nirgends in der Bibel etwas darüber, was in diesem Falle mit den Haustieren der Entrückten geschehen würde. Es gibt darüber zwar theologische Kontroversen, aber die meisten gehen doch davon aus, dass die Tiere auf der Erde bleiben müssen. Die geschäftstüchtigen Anbieter garantieren nun, dass auch sie selbst als überzeugte Atheisten im Falle einer solchen Entrückung zurückbleiben würden und, gegen sofortige Vorauszahlung einer entsprechenden Gebühr, sich dann liebevoll um die Haustiere der Entrückten kümmern werden.

Ganz unabhängig von diesem speziell skurrilen Fall bringt ein solcher Glaube eine besondere Form der Wachheit und Aufmerksamkeit hervor, vor allem gegenüber dem eigenen Verhalten: Wenn das Weltende oder gar das Weltgericht jederzeit eintreffen können, muss ich mich beständig wach und liebevoll gegenüber meinen Mitmenschen verhalten und darf mir keine Verfehlungen leisten, die sich eventuell im Augenblick der Wahrheit nicht mehr wieder gut machen lassen. Streitigkeiten darf ich nicht andauern lassen, Vergebung und Versöhnung niemals aufschieben, muss immer streng mit mir selbst und wach gegenüber den anderen sein. Die verschiedenen Aufrufe zur Wachsamkeit, wie sie sich im Neuen Testament hier und da finden, werden in diesen Kreisen besonders ernst genommen.

 

Nun ist die Erwartung der baldigen Ankunft oder Wiederkunft eines Erlösers ein allgemeines Phänomen der menschlichen Religionsgeschichte und keineswegs auf die Messiaserwartung im Judentum und die Erwartung der Wiederkunft Christi im Christentum beschränkt.

Wie bald, wie unmittelbar das Ereignis erwartet wurde und wird, ob es mehr äußerlich vorgestellt oder mehr innerlich interpretiert wird, das ist verschieden oder es kann sich auch innerhalb einer religiösen Strömung mit der Zeit verändern. Es scheint aber in vielen Bereichen zum Menschsein dazuzugehören, mit solchen Erwartungen zu leben. Im frühen Christentum hat im ersten Jahrhundert eine starke Naherwartung der Wiederkunft Christi vorgeherrscht, die dann aber mit fortschreitender Entwicklung an Unmittelbarkeit verloren hat.

Was schließen wir nun daraus, wenn wir nicht selbst in radikaler Weise einer dieser Strömungen angehören, diese für die einzig richtige halten und die anderen religiösen Denk- und Erlebnismöglichkeiten ablehnen? Tun wir das dann alles als Wunschdenken angesichts menschlicher Leiden und Schwierigkeiten ab? Oder halten wir Wiederkunft und Erlösung für bevorstehende oder gar schon gegenwärtige geistige Wirklichkeiten, die von verschiedenen Menschen auf verschiedene Weise erlebt und interpretiert werden und deren wirkliche Bedeutung wir noch suchen wollen?

 

Sie werden der Formulierung schon anmerken, dass ich der zweiten Möglichkeit zuneige. Zusätzlich zu den beiden erwähnten entgegengesetzten Schlüssen gibt es natürlich auch noch weitere Möglichkeiten, zum Beispiel die agnostische: »über solche Dinge kann man nichts wissen«. Einer solchen Behauptung widerspreche ich ausdrücklich, mir scheint, dass wir mit einem klaren Blick auf die äußere und innere Entwicklung der Menschheit und unter Zuhilfenahme einiger Begriffe aus der Anthroposophie sehr wohl einiges über die Entwicklung und die Zukunft unserer Welt und der Menschheit wissen und noch vieles mehr erahnen können.

Doch zunächst noch einmal zurück zum oben erwähnten ersten Brief des Paulus an die Gemeinde in Thessaloniki, der zu den Entrückungsphantasien Anlass gegeben hat. In einer neuen Übersetzung von Johannes Lauten klingt der oben erwähnte Abschnitt so:

1 Th 4,15-17: Wir sagen euch dies als ein Wort des Herrn: Wir, die wir leben und die Anwesenheit des Herrn in unserer Seele erfühlen, werden dies den Verstorbenen nicht voraushaben. Es ist an der Zeit. Er selbst, der Herr, wird aus Geisteshöhen niedersteigen, vom Ruf des Erzengels und vom Hall der Gottesposaune geleitet. Dann werden zuerst die Seelen derer auferstehen, die in Christus gestorben sind; und dann auch wir, die wir lebend bewahrt wurden. Wir alle werden gemeinsam ins Reich der Wandlungen der Gestalt in Wolkenhöhen erhoben werden zur Begegnung mit dem Herrn im Geisterland. Ihm, dem Herrn, werden wir vereint sein für immer. Ermutigt euch gegenseitig an solchen Gedanken.

Auch Paulus rechnet hier, in dem frühesten seiner uns erhaltenen Briefe, noch mit der Wiederkunft des Christus zu seinen Lebzeiten. In den späteren Briefen hat er so konkret nicht mehr darüber geschrieben. Wenn wir genau hinhören, merken wir aber, dass Paulus hier gar nicht über eine Entrückung noch lebender Christen schreiben, sondern die schon beginnenden Zweifel an der Wiederkunft zerstreuen will. Er will seiner Gemeinde sagen, dass es gar nicht schlimm ist, dass schon einige Christen verstorben sind. Für manche war das wohl ein Grund zum Zweifeln, sie hatten den Tod eines Christen vor der Wiederkunft gar nicht für möglich gehalten. Paulus hält dagegen, dass die Verstorbenen ebenso wie die Lebenden mit Christus vereint sein werden. Wann das sein wird – so schreibt er dann in den folgenden Versen – lässt sich nicht voraussagen!

 

Das gesamte Urchristentum und seine langsam entstehende Theologie ist erfüllt von dem Versuch, Erlebnisse und Erfahrungen zu beschreiben, die leuchtend klar waren, aber schwer in Worte zu fassen, und dann auch die Folgen dieser Erfahrungen zu beschreiben. Was in den meisten antiken Kulturen einer kleinen Gruppe von gut vorbereiteten Eingeweihten vorbehalten war: ein unmittelbares Erleben der geistigen Welt durch ein Erlebnis des Sterbens und Wiederauferstehens, das wurde nun allen Christen durch ihre Taufe zuteil. Sie hatten alle die Gegenwart des Auferstandenen erlebt und fühlten sich mit ihm vereinigt. Wie sie sich aber nach diesem Erlebnis wieder in ihre Alltagswelt einfügen sollten, in der sie sich nun fremd fühlten, wie viel Gemeinsamkeit mit und wie viel Abgrenzung von den Nichtchristen nötig sei, was nun aus neugewonnener Freiheit erlaubt und was aus Rücksicht auf die christliche Gemeinschaft verboten sein sollte – das alles sind die Themen, die heftig diskutiert wurden und in die Paulus auch aus der Ferne mit seinen Briefen versuchte einzugreifen. Und verständlich ist auch die Hoffnung, dass dieser Zustand der Fremdheit in einer nichtchristlichen Welt nicht zu lange anhalten möge! So endet ja auch das ganze Neue Testament mit den letzten Zeilen der Apokalypse: »Ja, komm, Herr Jesus!«.

Nun blieb aber die Wiederkunft in dieser Form aus. Das Christentum begann, sich in der Welt einzurichten, ja, sie zu beherrschen. Oft waren es die ketzerischen, die Protestbewegungen, die die Hoffnung auf eine unmittelbar bevorstehende Wiederkunft wieder aufgriffen. Bis heute gibt es auch religiöse Gruppen, die den Eintritt der Endzeit genau ausrechnen möchten. Ich kenne selbst einige Menschen, die in einer solchen Gruppierung jahrelang gelebt haben und deshalb z.B. beim Bau eines Einfamilienhauses eine besonders hohe Hypothek aufnahmen: die Nähe des Weltendes war ihnen bekannt und sie waren sicher, dass die Rückzahlungen an die Bank nicht lange eine Rolle spielen würden. Damit nähern wir uns wieder dem Thema vom Anfang dieses Artikels: Es ergibt sich, neben solchen erstaunlichen Konsequenzen, eben auch eine besondere Form von Wachheit aus einem solchen Glauben: wie schon gesagt herrscht große Wachheit gegenüber den Mitmenschen, das eigene Verhalten muss immer perfekt sein, andererseits kann dann auch auf die göttliche Gnade gehofft werden. Wer sich aber durch sein Verhalten sicher sein kann, zu den Auserwählten zu gehören, freut sich einfach auf den Augenblick der Befreiung aus dieser komplizierten und leidvollen Welt.

 

Können wir denn nun all diesen doch offensichtlich eher missverstandenen Wiederkunftsvorstellungen ein Verständnis entgegensetzen, das auf klaren Gedanken, auf einem Blick in die Geschichte und auf heutigen menschlichen Erfahrungen aufbaut? Ein Versuch soll zumindest gemacht werden, auch wenn er stark vereinfacht und ausbaufähig ist:

Wir beobachten eine Bewusstseinsentwicklung in der Menschheit, deren verschiedene Stufen auf religiösem Gebiet zwar im Schwinden, aber doch fast alle noch vorhanden sind. Da gibt es träumerische, naturverbundene Lebensweisen, in denen kaum ein Unterschied erlebt wird zwischen der irdischen und der geistigen Welt und auch alles in der Natur als wesenhaft erlebt wird. Da gibt es eine intensive Verbindung zu den Ahnen und eine Beschäftigung mit dem Weg der Seele nach dem Tode. Dann entsteht eine Stufe des Bewusstseins ewiger Kreisläufe und wiederholter Erdenleben, in die die Menschen eingebunden sind und die Frage, wie sich Einzelne durch Bejahung des eigenen Schicksals (im Hinduismus) oder durch Meditation und Übung (im Buddhismus) aus diesem ewigen Kreislauf befreien können. Dann in Persien und im Judentum ein Erlebnis von Geschichte, mit einem Anfang und einem Ziel.

Insgesamt wird im menschlichen Erleben die Trennung zwischen irdischer und geistiger Welt immer stärker. Durch Übung oder Einweihung wird der Weg ins Geistige weiterhin gesucht. Vor der Zeitenwende begegnen und befruchten sich die persische und die jüdische Religion. Der Blick wird nach vorne in die Zukunft gerichtet, die Endzeiterwartung wächst. Die Suche nach einer Verbindung mit dem Geistigen durch Einweihungs- und Taufrituale nimmt zu. In diese Zeit fallen Tod und Auferstehung des Christus Jesus. Durch ihre Form der Taufe erleben die ersten Christen diesen Tod und diese Auferstehung unmittelbar mit. Einweihung ist nicht mehr nur einer Elite, sondern allen zugänglich: Männern und Frauen, Sklaven und Freien, Armen und Reichen. Das ferne Ziel einer solchen forcierten Individualisierung wären freie Individuen, die ohne äußere Gesetze aus der Verbundenheit mit geistigen Wesen und aus seelischer Einsicht in gegenseitigem Respekt weltweit Gemeinschaft bilden.

 

Rasend schnell verbreitet sich das Christentum. Dessen Theologie, das Verstehen dessen, was da eigentlich geschehen ist, entwickelt sich langsamer, in Kämpfen, Streitereien und Auseinandersetzungen. Das unmittelbare geistige Erleben verblasst wieder, der römische Staat macht sich die neue Religion zu eigen.

Wissenschaftliches Denken ergreift die christlichen Bereiche erst viel später. Aber es setzt sich durch, erobert und kolonialisiert den Rest der Welt. Materialistisches Denken entsteht, emanzipiert sich von allem Religiösen, die ganze Welt scheint rein mechanisch erklärbar, auch die Lebewesen sind wie Maschinen, deren Erklärung kommt ohne Seele und Geist aus.

Die Religionen passen sich an oder werden fundamentalistisch und wollen das Rad der Zeit zurückdrehen. Der Materialismus durchdringt alles, scheitert aber weiterhin daran, die Existenz der Materie, des Lebens und des Bewusstseins zu erklären. Im 20. Jh. weicht er wieder ein wenig auf, die mechanische Erklärbarkeit weicht der Relativität, der Wahrscheinlichkeit, der Gleichsetzung von Energie und Materie.

Menschen aber erleben weiterhin Seele und Geist, erleben sich nicht als Maschinen, sondern als Individuen, suchen das Lebendige, erleben hilfreiche geistige Einwirkungen, die nicht aus der Materie stammen können. Technik und Wissenschaft haben Freiräume gebracht, ohne die wir gar keine Zeit zum Nachdenken hätten, aber auch unzählige Probleme, die die ganze Lebensgrundlage der Menschheit in Frage stellen. Die Lebenssphäre der Erde ist bedroht und macht uns Sorgen.

Wie wäre es nun, wenn die Wiederkunft des Erlösers sich auf den Bereich konzentrieren würde, der sie am meisten braucht: auf die Lebenssphäre der Erde?

Sie wäre dann keine Wiederholung der ersten Anwesenheit des Erlösers unter den Menschen, sondern eine neue Anwesenheit auf einer anderen Stufe. Sie wäre kein endgültiges »In-Ordnung-Bringen« der Welt mit Macht von außen, sondern eine behutsame Hilfe für den damals angeregten und immer noch keimhaften Emanzipations- und Individualisierungsprozess der Menschheit, in einer Zeit, in der alles auf dem Spiel steht und die Verbindung zur geistigen Welt völlig abzubrechen droht. Und sie würde eine große Wachheit und Offenheit erfordern, um überhaupt wahrgenommen und nicht verpasst zu werden.

 

Wenn wir mit dieser Frage und dieser neuen Blickrichtung noch einmal auf den oben genannten Text aus dem ersten Thessalonicherbrief schauen, fällt plötzlich auf, dass gar nicht von einer Erhebung »in den Himmel« die Rede ist, sondern »in Wolkenhöhen«. Die lebenspendende Lebenssphäre der Erde, ihre Wolkenhülle, der Lebensleib unserer Erde, ist der Ort der Begegnung mit dem Wiederkommenden.

Solche Begegnungen sind zart, lebendig und flüchtig. Sie schleichen sich heran »wie ein Dieb« und können verpasst und verschlafen werden. Die Wiederkunft bricht nicht von außen herein. Wir brauchen Wachheit nach außen und nach innen und vor allem gegenüber den lebendigen Vorgängen des Erdenseins um sie zu erahnen und zu erleben:

Meine lieben Brüder, verharrt nicht in der Finsternis, damit euch der Anbruch des Tages nicht überrasche wie ein Dieb. Seid ihr doch alle Söhne des Lichts und Söhne des Tages. Unser Wesen sei nicht gefangen in der Nacht und umdunkelt von Schatten. Lasst uns nicht in Schlaf versinken wie so viele, sondern lasst uns wach und nüchtern sein. Wer die wahren Ereignisse der Zeit verschläft, verfällt der Nacht; und wer den nüchternen Sinn leugnet, der Finsternis. Wir aber, die wir dem lichten Tage angehören, wollen nüchtern sein; umkleidet mit dem Brustpanzer des Glaubens und der Liebe; das Haupt beschirmt mit dem Helm der sicheren Hoffnung auf das Kommen des Heils. Durch Christus Jesus, unseren Herrn, haben wir Anteil am Wirken des Heils und vergehen nicht im göttlichen Zorn. So ist es der Wille des Vaters. Er, der Herr, ging für uns in den Tod, und unser Leben ist, dass wir verbunden sind mit ihm im Wachen und Schlafen. (1 Th 5,4-10).