Wach sein

AutorIn: Mechtild Oltmann-Wendenburg

Ein Lebensgebiet, in welches die moderne Naturwissenschaft immer weiter und gründlicher eindringt, ist der Schlaf des Menschen. Wie das jeder selbst erfährt, gibt es da verschiedene Phasen, von denen es abhängt, wie tief oder erholsam die Nacht gewesen ist. Man spricht von fünf, im Wesentlichen aber drei dieser Phasen, die sich mehrfach in jeder Nacht wiederholen können: die Phase des Einschlafens, des Tiefschlafes und die Traumphase. Ganz wesentlich bei dieser Art von Beobachtung und Erforschung ist die Bewegung der Augen.

Ganz ohne Untersuchung und Messungen ist es ebenfalls möglich, auch das Wachen in verschiedenen Stufen zu erleben und zu beschreiben. Es gibt die normale Wachheit des Tagesbewusstseins, als Zweites eine Steigerung davon in Zeiten, in denen wir uns ganz besonders auf etwas ausrichten oder konzentrieren, auf das wir unsere volle Aufmerksamkeit fokussieren, und dann noch eine dritte Stufe: Sie ist charakterisiert durch den Schreck. Das ist keine von uns selbst ausgeführte, sondern eine zumeist ganz plötzlich und überraschend eintretende Wahrnehmung. Indem wir erschrecken, reagieren wir auf einen Sinneseindruck mit erhöhter Aufmerksamkeit, die uns einerseits ein wenig außer uns bringt, andererseits zusammenfahren lassen kann und die im nächsten Augenblick wieder vorüber ist. Wenn das eintritt, vor Schreck zu erstarren, ist die Folge oftmals Angst, solange bis das klare Bewusstsein zurückkehrt und es möglich wird, sich wieder zurückzufinden in die nüchterne Gegenwart.

In unserer Zeit wird das Schreckliche meist einfach nur als furchtbar erlebt, und wir vermeiden unbedingt Situationen, in denen es auftreten kann. Das war nicht immer so. Im antiken Theater, das ja neben dem künstlerischen auch immer einen therapeutischen Sinn hatte, wurde es bewusst eingesetzt, um die Seele durch Überwindung zu läutern und zu stärken.

Nicht anders ist es wohl auch von Rilke gemeint in seiner berühmten Behauptung in der ersten seiner Duineser Elegien: »Ein jeder Engel ist schrecklich.« Einen Engel zu schauen, ist nicht unbedingt nur ein »wunderbares« oder »herrliches« Ereignis, es kann überwältigen und zunächst tatsächlich wie ein gewaltiges Schreck­erlebnis wirken, vor allem, weil man es zumeist nicht erwartet hat. Nicht umsonst treten diese Wesen oft mit den Worten »fürchte dich nicht« an den Menschen heran.

 

Der Bereich menschlicher Wachheit ist in unserer Gegenwart schon im ganz normalen Alltagsleben heftig umkämpft. Fast all unsere Sinne, welche die Instrumente der Wachheit genannt werden können, sind betroffen. In allem, was da z.B. als Verstärkung wirkt, in allem, was »Video« oder »Audio« heißt, mit oder ohne Brille oder Knopf im Ohr, sind wir ständig mit diesem Kampf beschäftigt, der mal hilfreich, mal schädigend sein kann.

Es könnte in diesem Kampf um etwas Größeres gehen, als es den meisten Menschen, oder uns allen meistens, bewusst wird, um weit mehr als das, was an der Oberfläche erscheint. Es wird durch diese Verstärkung möglicherweise eine andere Kraft geschwächt, nämlich die Fähigkeit, durch unsere Sinne hindurch und nicht außer uns, das Übersinnliche wieder wahrnehmen zu lernen. Die Kraft des Erwachens für geistige Zusammenhänge durch den Gedankensinn zum Beispiel, wenn das eigene Denken durch Ideologien, die gern berauschend und fanatisch praktiziert werden und sich elektronisch wie ein Virus ausbreiten, schwach geworden ist.

Wie großartig andererseits, dass heute Menschen auftreten wie der Förster und Naturschützer Peter Wohlleben, der vom »geheimen Leben der Bäume« spricht und schreibt auf der Grundlage genauester und liebevoller Beobachtung, sozusagen mit geschärften Sinnen. Kein Wunder, dass er ein riesiges Interesse hervorruft.

In diesem Kampf um die Sinne, die Wachheit aller Sinne, fällt auf, dass fast alle Übungen, die Rudolf Steiner den Fragenden gegeben hat, mit einer Verstärkung der Aufmerksamkeit und willentlicher Gedankenkraft gegenüber dem Ergreifen der Wirklichkeit zusammenhängen.

Es fällt auch auf, dass die Menschenweihehandlung sich nicht an jemanden wendet, der sie mit geschlossenen Augen aufnehmen will, sondern dass sie sich an alle unsere Sinne richtet und dass man darin im Laufe der Zeit immer wacher werden kann.

Das alles gipfelt in der ungeheuerlichen Tatsache, die auch immer mehr Menschen bemerken, nämlich, dass wir in einer Zeit leben, in der die geistige Welt neu begonnen hat, sich zu Gesicht und zu Gehör zu bringen und dem Begreifen zu nahen.

Wir dürfen das die Wiederkunft des Christus in den Wolken nennen, wie es im Evangelium und in der Apokalypse ausgedrückt ist, oder im Ätherischen, wie es in der Anthroposophie heißt. Dafür wird ein einziges Wort als eine starke Aufforderung den Menschen zugerufen. Es heißt: »Wachet« und ist deshalb mit solchem Nachdruck gesagt, weil es sein könnte, dass alles dies geschieht und niemand es bemerkt.

In einem Zeitalter der Freiheit, in dem wir heute leben wollen, wird niemand halbbewusst oder schlafend dazu gebracht, das Übersinnliche wahrzunehmen, sondern die aktive Seite des Geschehens, die geistigen Wesen, sind darauf angewiesen, dass wir es bemerken und aufwachen für die Geistigkeit der Welt, an anderen Menschen und in uns selbst.