Die Welt auf dem Brombeerblatt – Wort-Botanik von Paul Celan

AutorIn: Yaroslava Black

Die Landschaft, in der Paul Celan aufwuchs, heißt Bukowyna, Buchenland, Land der Buchen. Es ist ein Stück Erde im Südwesten der Ukraine, wo Bäume und Menschen das gleiche Los teilen: sie sind entwurzelt durch die immer wiederkehrende Naturgewalt des Schicksals.

Doch die erste Heimat Paul Celans ist gewiss die deutsche Sprache. Die verließ er nie, selbst dann, wenn sie ihm immerwährenden Schmerz bereitete. Sie wanderte mit ihm überallhin: überschritt die Grenzen, rieb sich an den anderen Klängen wund und blieb ihm treu. Was Celan aber ebenfalls mitnahm in die Fremde, war sein inneres Herbarium, eine botanische Sammlung seiner Heimat, die er mit sich trug: Buchen, Pappeln, Kastanien, Platanen, Linden, Kirschen, Äpfel, Holunder, Rosen, Mohn, Nelken, Fingerhut, Engelsüß, Farne, Moose, auch Maisfelder, Korn, Weizen, Herbstzeitlose … Angefangen vom ersten Gedichtband Der Sand aus den Urnen 1948 bis zu Atemwende 1967 ist das Werk Paul Celans voller Pflanzen, die sich an seiner Wehmut ranken. An ihnen halten sich oft Celans Gedanken, auch seine Erinnerungen.

 

… Schweigen, ein Kelchblatt, es

hing ein Gedanke an Pflanzliches dran –

grün, ja ...

 

In den dunklen Stunden der Einsamkeit schimmern ihm die vertrauten Blätter und Gräser in den unbekannten Orten entgegen und leisten ihm eine Weile Gesellschaft. So schreibt er 1948 aus Paris an Max Rychner: ... in dieser wunderbaren Stadt, in der ich nichts habe als das Laub der Platanen.

Verlust seiner Familie, großer Kummer, dass er sie nicht retten konnte, Arbeit im Lager am Moor, Flucht, Freundschaften, Armut, Fremde in Budapest und Paris, Liebe, Sohn, Sehnsucht nach der Landschaft der Kindheit, Ausgelachtwerden für seinen Akzent, für sein Pathos beim Gedichtvortrag, für seinen Singsang wie in der galizischen Synagoge, Einsamkeit, Liebe, Nervenzusammenbruch, Israel, Suche nach dem Lichtfunken Gottes, … an der Klagemauer kann ich ihn nicht finden, dort stellen die Menschen ihre Frömmigkeit zur Schau ..., Heimatlosigkeit, Liebe, Gräber mit Steinen, Steine der bretonischen Küste, Einsamkeit, Sehnsucht, kaltes Wasser im Fluss einer fremden Landschaft.

 

In Czernowitz, im Innenhof hinter dem Haus Nummer 3, wuchs ein Kastanienbaum. Aus dem Fenster der Wohnung sah der junge Celan in dem Kastanienbaum einen anderen Raum, erfüllt mit Licht und Schatten. Der Baum markierte aber auch die Grenze zu einer anderen Welt und trennte das Diesseits, wo er sich mit seinen Gedanken befand, und das Jenseits, wo noch nicht Gedachtes und Gehörtes auf ihn wartete.

Die Straßen um den jüdischen Friedhof in Czernowitz waren mit Pappeln bewachsen. Diese Pappeln erinnerten Celan überall in der Fremde an die zerstörte Heimat:

 

Ich sah meine Pappel hinabgehn zum Wasser,

ich sah, wie ihr Arm hinuntergriff in die Tiefe,

ich sah ihre Wurzeln gen Himmel um Nacht flehn ...

Und sah meine Pappel nicht mehr.

 

Das Gedicht Landschaft (1951) beginnt mit Ihr hohen Pappeln – Menschen dieser Erde! ... Pappeln (lateinisch: populus), sind hier sprachlich so dicht an dem Wort Volk, dass man sie, mit ihren zum Himmel hochgestreckten Zweigen, wie seinesgleichen erlebt, sie wie Mutter, Bruder, Schwester lieben kann. Sie sind die Zuhörer deiner Gedanken, aber auch deiner Klagelieder. Topolja, Pappel auf Ukrainisch, reimt sich in den Volksliedern in Moll auf das Wort dolja, (Schicksal) mit dem Verweis auf geboren sein ohne Wurzel, nahe am dunklen Wasser, bitter wie Wermut – die Lebensbotanik der Menschen dieser Erde, die Celan abgestoßen und zugleich angezogen hat.

 

Espenbaum, dein Laub blickt weiß ins Dunkel ...

Löwenzahn, so grün ist die Ukraine ...

 

Celan dichtete ganz neue Lieder, auch in Moll und auch aus der farbigen Welt der Botanik. Im Gedicht über den Hafen von Odessa hört man ihn singen:

 

… wie oft ich dir bis

in die Kehle hinaufsang, heidideldu,

wie die heidelbeerblaue

Erle der Heimat mit all ihrem Laub,

heidudeldi ...

 

Vor dem Haus Nummer 3 auf der Sahaidachnyj Straße – nicht weit von der früheren Herrengasse mit dem berühmten Wiener Cafe – standen wir, einige wenige in die Poesie vernarrte Studenten der Czernowitzer Universität, vor diesem Haus in den Farben der verwelkten Blätter. Unser Professor Petro Rychlo, der als erster die deutschen Gedichte Celans ins Ukrainische übersetzte, wollte uns die Worte Celans nahebringen. Mir schien, er wollte sie einfach ins Freie lassen. Er rezitierte. Es regnete, aber er rezitierte weiter diese seltsam vertrauten und gleichzeitig fremden Zeilen. Irgendwo, vielleicht auf der Herrengasse, spielte ein Akkordeon. Eine genervte Mitstudentin murmelte, dass sie nichts davon verstehe. Sie fragte sich laut, was diese Gedichte in der Welt verändern könnten. Herr Rychlo rezitierte lauter. Auf der Straße fuhren Autos und zerteilten Pfützen mit einem dumpfen Geräusch des Spätherbstes. Für einen war die Stunde eine Kröte, für den anderen hob sich die Welt aus den Angeln. In dieser Zeit tüftelten wir alle an unserer Zukunft.

 

Ein abgesprungener

Knopf  tüftelt an jeder Ranunkel,

die Stunde, die Kröte,

hebt ihre Welt aus den Angeln ...

 

Celans Gedichte zeigen immer deutliche Grenzen: Die Grenze zwischen In-sich-sein und Außer-seiner-selbst-sein, von allen Zwängen der Zeit befreit. Die Grenzen: Jenseits-Diesseits abtasten; auskosten die Gefühle der Nähe, der Ferne. Sich selbst über die Schwelle setzen, sich auflehnen gegen die Begrenztheit der Sprache, auch gegen alle Nötigungen der Sprache. Zuerst aufmerksam werden, hinhorchen auf den Rhythmus der Landschaft, auf das Rauschen der Pappeln, Kastanien, Buchen. Plötzlich … geschundenes Später der Rosen … wahrnehmen, die abgemessene Zeit, die einem in einer Landschaft gegeben ist. An den Grenzen verändert sich das Bild der Welt. Sie bereiten Trennungen, verursachen Schmerzen und Verluste. Aber sie lassen auch die Kostbarkeit eines Brombeerblattes deutlich werden, das unbemerkt an meinem Kleidungsstück hängend über alle Grenzen mitwandert, und dessen Gegenwart manchmal genügt, um am Flussufer statt des verzweifelten nächsten Schrittes stehenzubleiben.

 

… das Bild der Welt,

dem Himmel entgegengetragen

auf einem Brombeerblatt.

 

Was ist die Sprache deiner Landschaften: Wachstum oder Wunde? Es ist schön, schweigen zu können in allen Sprachen und den Geruch des nassen Welkblatts einzuatmen. Und dann nach einem Augenblick der Stille wie in der mystischen Kabbala, sich zurückziehen ins Nichts, in das Ungesagte noch vor der Schöpfung: Zimzum. So wie in der jüdischen Mystik: Gott zog sich zurück. Ließ den Menschen frei. Wie sonst wäre Krieg möglich?

In der Dunkelheit die zersplitterten göttlichen Lichtfunken erblicken. Gewahr werden, dass die Dunkelheit das Licht nicht begriffen hat. Dann sprechen können selbst in der Finsternis. Wieder Sprache finden. Denn jedem steht eine Sprache zu, eine Landschaft, ein Baum, ein Tag. Die Grenzen verschwinden: Wachstum und Wunde. Überall bleibt nur das allumfassende Grün und die feinen Unterschiede in der Welt der Botanik und des Wortes. Ihm kann ich folgen.

 

… es steht dir ein Baum zu, ein Tag,

er entziffert die Zahl,

ein Wort, mit all seinem Grün,

geht in sich, verpflanzt sich,

folg ihm