Schlaf schläft nicht

AutorIn: Stefanie Rabenschlag

Im stillen Großraum, Wagen Nummer drei auf der Fahrt von Mannheim nach Kassel, stieg Schlaf zu, kurz hinter Hanau. Das Wetter hatte gewechselt in der Nacht. Eine Thermoskanne in Leuchtgelb machte eine Andeutung von kühleren Tagen. Grauweiße Wolkendecken über dem hessischen Bergland boten sich an. Der Zug hatte schon seit Mannheim leichte Verspätung, die Deutsche Bahn meldete unablässig per Mail, was eventuell nicht erreicht werden könne. Margrit packte ihren Laptop aus dem grünen Koffer, schaltete ihn ein, cancelte den Textentwurf und öffnete eine neue Datei. Sie hatte sich Platz 47 (am Gang) reserviert. Fensterplatz nahm sie bei freier Auswahl nie, denn sie mochte es nicht, jemanden ansprechen zu müssen, wenn sie aufstehen wollte. Der Fensterplatz links von ihr war frei, noch, dort stand ihr Handgepäck, ein kleiner Rucksack und der Beutel mit dem Proviant. Hinter Fulda mit 212 km/h durch den Tunnel, draußen dann mit Sonne auf 246 km/h, die Verspätungsmeldungen würden bald überholt sein. 

Während Margrit an dem neuen Text schrieb, hatte Schlaf sich in die Gepäckablage gelegt. Jetzt erinnerte sie sich, dass sie beim Aussuchen der Platzreservierung nach einem Platz nah an der Ablage gesucht hatte. (Normalerweise buchte sie ausschließlich die Nummer 71, nicht, weil sie etwas Bestimmtes mit dieser Zahl verband, 7.1., 1.7., 17 oder welche Spiele man damit betreiben konnte – der Zug schien jetzt wirklich unbedingt pünktlich nach Kassel zu wollen, kurz unter 250 km/h fielen ihr die Ohren zu – nein, sie reservierte sonst die 71, weil das ein Einzelplatz war.) 

Umstieg in Kassel. Das Gummiband ihrer Maske drückte hinter dem linken Ohr und erzeugte zusammen mit dem Brillenbügel einen beharrenden Schmerz. Fast noch drei Stunden bis Hamburg. Jetzt umsteigen. Wagen sechs, Platz 117, wieder der Fensterplatz neben ihr frei, die kleine Gepäckablage in ihrem Rücken. Links neben ihr saß in der anderen Sitzreihe eine Frau, unruhig laut vor sich hin sprechend und unablässig mit einer Zeitung hantierend, die sie verschiedentlich faltete. Margrit öffnete wieder ihren Laptop, drückte auf den Sensor zur Fingerabdruckentsperrung: Ihr Gerät hat Sie nicht erkannt. Versuchen Sie es noch einmal. Ihr Gerät hat Sie nicht erkannt. Versuchen Sie es noch einmal. Nach dem zweiten Versuch erschien die neu angefangene Datei wieder auf dem Bildschirm. Die unruhige Frau auf Nummer 113 trug eine knielange Hose im Tarnlook von Uniformen. Margrit schaute sich nach Schlaf um. Sie hatte sich seinetwegen eine spezielle Brille anfertigen lassen, ein Vintagemodell aus den siebziger Jahren, das, wie viele andere, bei ihrem verstorbenen Optiker unter alten Beständen im Keller gelagert hatte. Es war nicht ganz leicht gewesen, passende Gläser zu finden für diese Beinahe-Schutzbrille mit ihrer tiefreichenden Form, die nahezu das halbe Gesicht bedeckte. Schlaf saß ihr im Rücken, sie sah, wie er sich nah an ihr neben Koffer und Taschen in die Ablage gezwängt hatte. Jedenfalls aus ihrer Sicht sah es dort für ihn sehr eng aus, obgleich sie wusste, wie beweglich er war. Sie machte eine Pause mit Schreiben, verstaute den Laptop wieder in der Vordertasche ihres Koffers und überlegte, ob es sich noch für ein Stück aus dem Hörbuch lohnte. Sie war froh, dass sie sich, wie ewig nicht mehr, wieder auf langes Lesen und Hören konzentrieren konnte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, das liege daran, dass Schlaf bei ihr war, trotzdem war sie nicht sicher, was er eigentlich damit zu tun hatte. Sie kannten sich schon länger, hatten aber nebeneinander her gelebt. Margrit war eher distanziert, man konnte auch selbständig sagen, und gab nicht gerne zu, jemanden zu brauchen. Vielleicht lag es daran, dass sie sich seinem Einfluss zunächst entzogen hatte. Doch Schlaf war – ganz unerwartet für sie – hartnäckig. Anfangs dachte sie, er bremse sie aus, weil er ihr Tempo einfach nicht akzeptieren wollte, sie, die mit Hochgeschwindigkeit durch die Tunnel fuhr. Wie ein Gewicht fühlte sie seine ständige Anwesenheit, sie hätte sich gern schneller bewegt, hierhin, dorthin, wie es ihr in den Sinn kam, aber das ging mit ihm nicht. Schließlich gestand sie ihm Raum zu, nicht ohne den leisen Gedanken, dass er sie dann in Ruhe lassen würde. Er ließ nicht. Schlaf blieb. Nicht aufdringlich, aber präsent. Manchmal legte er sich dick wie eine Wolke um sie herum. Dann fühlte sie sich leicht und schwer zugleich, jedenfalls so eingehüllt und sicher, dass Aufregungen an ihr abperlten wie Wassertropfen am Vogelkleid. Nachts war er manchmal nicht da, sie verstand nicht genau warum, einmal sagte er, er werde anderswo gebraucht. 

Der Zug fuhr jetzt in Hamburg ein, Margrit stieg aus, erst jetzt sah sie, dass ein Anruf auf ihrem Smartphone eingegangen war. Sie rief die Nummer zurück. Das Hotel hatte die Ankunftszeit abgleichen wollen. Diesmal ging Schlaf voraus, die lange Chaussee entlang. Die zahlreich verlegten Stolpersteine gaben den Rhythmus seiner Schritte vor, Margrit folgte wie Hänsel und Gretel im Märchen, denen die Kieselsteine den Weg zeigen. Er war schon drin, als der freundliche Mann von der Rezeption ihr das Zimmer Nummer 1 aufschloss, ein Doppelzimmer, jedenfalls die Möglichkeit dazu. Sie nahm das Bett gleich rechts neben der Tür, das zweite stand gegenüber an der Wand, mit nur einem Kopfkissen belegt. Das Oberlicht über der schmalen Balkontür, die wie ein Hinterausgang auf einen schmalen Weg rund ums Haus führte, stand offen. Sie zog sich um, denn hier war es kühler als dort, von wo sie kam. Dann gingen sie gemeinsam los. Schon lange ärgerte sie sich nicht mehr, dass er es war, der entschied, welchen Weg sie nahmen oder ob sie unvermittelt auf die andere Straßenseite wechselten. Wie ein wohlwollender leichter Nebel umgab er sie. Sie hätte nicht sagen können, ob es wie ein Duft war, wie der Geruch von frischem Brot, der aus einer Bäckerei drang, wie eine Rose, wie ein unaufdringliches Parfüm. Es war von allen etwas und doch nicht so dicht, nicht ganz so existent. Sie fragte sich, ob es wohl einen Sinn gebe, der ihn wahrnehme, einen Schlafsinn, ein sanftestes Riechen, mit dem man ihn wie den geruchlosen und doch süßen Atem eines Neugeborenen erkenne. Oder ein irgendwie geartetes Organ, spezialisiert darauf, Witterung aufzunehmen zu ihm hin. Sie erinnerte sich plötzlich, dass man damals im Chemieunterricht nicht die Nase in Richtung einer Substanz stecken durfte, sondern mit der Hand über der Substanz wedeln musste, um den Geruch ungefährdeter aufzunehmen. Dass es also zwischen der Substanz und dem Riechen einen Abstand gab. So schien es ihr hier mit Schlaf zu sein. Nicht, dass er gefährlich war. Er war nicht greifbar, nicht fassbar, nicht erkennbar, und doch ging etwas von ihm aus, an dem sie ihn erahnte, fast wollte sie sagen: eratmete. 

Die Ampel schaltete auf grün, Schlaf und Margrit überquerten die Chaussee. Als sie drüben ankamen, schien er auf einmal verschwunden. Gut, die paar letzten Meter kannte sie ja im Schlaf –, sie lachte, als sie das Wortspiel bemerkte und wusste ohne Wedeln und Atmen, dass er GENAU HIER war. (Zu diesem Zeitpunkt dachte Margrit übrigens noch nicht, dass sie das alles aufschreiben würde. Der Abgabetermin saß ihr wieder einmal im Nacken, links, wie eine Verlängerung der Ausläufer ihrer »frozen shoulder«, hatte Aufschub bekommen, fuhr jetzt mit nach Hamburg. Schlaf lachte sich ins Fäustchen, als er sie grübeln sah, er hatte die Sache längst vorbereitet.) Jetzt noch einmal rechts abbiegen, dann gleich links den Privatweg hinein, ihr Herz klopfte schneller, hier roch es nach Schlaf. Und deutlich! Und obwohl sie den Geruch genau zu kennen meinte, erinnerte sie sich doch erst jetzt wieder. War ihr von Ewigkeiten her bekannt, legte seinen großen Mantel um sie, in den sie in alter Vertrautheit schlüpfte, der ihr passte wie eine zweite Haut, in die sie sich wohlig hineindehnte, diese kaum sichtbare Vergrößerung heraus aus dem Eigensein in sein lächelndes Angebot. 

Am Ende des Wegs trat gerade Frau K. aus der Tür und hielt Ausschau nach den Ankömmlingen. Margrit ging auf sie zu und rief: »Ich bin handlos!« »Ich bin auch handlos!« rief Frau K. Wie verabredet verstanden sie lachend diese Sprache und umgaben einander mit Wärme und Zuwendung. Schlaf stand dabei, plötzlich wiederaufgetaucht, dann schlüpfte er heiter in die Lücke, die der Abstand zwischen der luftigen Umarmung der beiden Frauen bildete. Sie gingen hinein, und Frau K. sagte wie nebenbei, Margrit habe sich verändert. 

Zwei Tage später erfuhr sie seinen Namen: Andreas.