Schlafen und Träumen am Tage

AutorIn: Renate Schiller

Mit wenigen Linien brachte der unbekannte Künstler aus Graubünden die Aussage Goethes aus dem Lehrbrief des Wilhelm Meister ins Bild. Mit aufgerissenen Augen sucht Judas den Blick des Herrn. Der schroffe, vierkantige Oberkörper, das scharfe Profil, die abweisende Geste der rechten Hand, die Linke, die unversehens das Messer ergreift, der entschiedene Biss in das ihm gereichte Brot berichten, dass ihm seine Absicht bewusst ist. Im Zwischenraum – vom Künstler in weichen, fließenden Formen gestaltet – liegt Johannes auf dem Tisch. Seine Augen sind geschlossen. Er muss nicht wachen, nicht wissen. Er schläft ja am Herzen Christi. Er ist in ihn hineingeschlafen und aus dem Eins-Sein mit dem Gotteswesen erhält er Mitteilung vom Weltgeschehen.

Und Weltgeschehen ist, was sich durch den Vorgang des Abendmahls und folglich des Bildes aus Zillis sowie des Gedankens Goethes ausspricht. Der Kern der menschlichen Tragödie ist das Problem von Teil und Ganzem. Der Mensch ahnt, dass er Teil eines Ganzen ist, befindet sich aber im Konflikt mit seinem vordergründigen Erleben, allein, nicht zugehörig zu sein. Zugleich beschreibt diese Polarität die Kluft zwischen Wissen und Handeln, respektive dem Vorstellen – hervorragendes Merkmal des modernen Menschen – und dem für ihn weit weniger zugänglichen schlafenden Willen, dessen Wurzeln noch im Weltenwillen Nahrung finden. Würde der Mensch nicht stets im Schlafe in seine Urheimat zurückkehren, in der geistigen Welt verweilen, dann brächte er in das physische Dasein nicht herüber die Befruchtungskeime zu allen großen und edlen Tätigkeiten.2

Von Brücken, die das Einzelne und das All, Vorstellen und Wollen verbinden können, berichten Lev Tolstoi, Rainer Maria Rilke und Vincent van Gogh: Künstlerisches Schaffen und sinnvolle Arbeit zeigen sich gleichermaßen geeignet, die Isolation des ins Erdendasein geworfenen Menschen zu überwinden.

 

Dächte der Musiker an die vor ihm liegenden schwierigen Partien seiner Partitur, fiele er heraus. Seine Griffe müssen soweit verinnerlicht sein, dass sie ihm gleichsam ohne sein Zutun von der Hand gehen. Eugène Delacroix stellt den Violinisten Paganini dar. Paganini hat vergessen, dass es ein Publikum gibt, eine Geliebte, einen Sohn, eine Krankheit, ein Leben … Durch den Kunstgriff des Malers, den Leib des Musizierenden in der Dunkelheit des Hintergrundes verborgen zu halten, leuchten die beweglichen Hände und der innerliche Gesichtsausdruck wie selbständige Wesen daraus hervor. Es entsteht der Eindruck, als könne sich Paganinis Seele jederzeit aus dem Körper lösen, um im Tönenden aufzugehen.

Vom Aufgehen in einer Tätigkeit berichtet auch Tolstoi in seinem Roman Anna Karenina. Er stellt den grüblerischen Gutsbesitzer Konstantin Dmitrijewitsch Ljewi vor, dessen Gedanken nie zu einem Ergebnis finden. Innere Unruhe treibt ihn um und raubt ihm den Schlaf. Linderung findet er, wenn er mit seinen Bauern auf dem Feld arbeitet.

Ljewi hatte jegliches Zeitgefühl verloren und wusste schlechterdings nicht zu sagen, ob es jetzt früh oder spät sei. (…) Mitten in der Arbeit überkamen ihn Minuten, in denen er vergaß, womit er beschäftigt war; es wurde ihm frei ums Herz und in diesen Augenblicken fielen seine Schwaden fast ebenso gleichmäßig und schön, wie bei Tit (dem Vorarbeiter). (…) Kaum aber hatte er sich wieder vergegenwärtigt, was er tue, und angefangen, recht gut arbeiten zu wollen, so erfuhr er an sich wieder die ganze Schwierigkeit der Arbeit, und seine Schwaden fielen schlecht.3

 

Die Schwaden der Schnitter von Albin Egger-Lienz fallen gut. Es wird am Hang gemäht. Rückwärtig zieht ein Gewitter auf. Hochkonzentriert verrichten die Bauern ihre Arbeit. Kein Gedanke drängt sich in ihre Tätigkeit, nicht an das Wie und Was der Arbeit, nicht an den Hof, auf dem vor dem Gewitter noch Einiges gesichert werden müsste, nicht an die Gefahren, in die sie das kommende Unwetter oder ein Straucheln auf dem schwierigen Gelände bringen könnte. Sie scheinen verwachsen mit den Gegebenheiten von Getreide, Bodenbeschaffenheit und Werkzeug und richten sich in traumwandlerischer Sicherheit in jedem Moment neu darauf ein. Erst am Abend wird ihnen bewusst werden, was sie gesehen, gerochen, gehört und erlebt haben. Der rötliche Boden zwischen den Getreidestoppeln, der zischende Ton der schneidenden Sichel, das Rauschen der fallenden Halme, der Geruch aufsteigender Feuchtigkeit ziehen als klare Nachbilder durch ihre Seele.

 

Egger-Lienz ist dem Realismus verpflichtet. Ferdinand Hodler geht darüber hinaus und verleiht der traditionellen Kleidung des Schnitters die Anmutung einer Sonntagstracht für den Kirchgang. Die farbigen Reflexe auf dem Hemd lassen es frisch und strahlend erscheinen und die neuen Stiefel glänzen.

Über die Szene ist pfingstliches Licht gebreitet. Im Erleben seiner segenbringenden Tat führt der Mäher die Sense mit feierlicher Achtsamkeit durch das blühende Gras.

Die von Hodler dargestellte religiöse Tiefe des Naturerlebens ist Kindern ganz selbstverständlich zu eigen. Sie verliert sich in den Entwicklungsjahren und nicht jeder Erwachsene wird zu ihr zurückfinden. Rainer Maria Rilke stellt das in seinen Betrachtungen über Landschaftsmalerei dar: … schließlich bescheiden sich die einen und gehen zu den Menschen, um ihre Arbeit und ihr Los zu teilen, um zu nützen, zu helfen, … während die anderen, die die verlorene Natur nicht lassen wollen, ihr nachgehen und nun versuchen, … ihr wieder so nahezukommen, wie sie ihr … in der Kindheit waren. Man begreift, dass diese letzteren Künstler sind: Dichter oder Maler, Tondichter oder Baumeister …4

Das entspricht den Beobachtungen Vincent van Goghs. Er führt das Phänomen seiner Schöpferkraft auf die Offenheit dem Naturschönen gegenüber zurück: Es ist doch die Erregung, die Ehrlichkeit des Naturempfindens, die uns die Hand führt, (…) Ich erlebe eine schreckliche Klarheit in den Momenten, in denen die Natur so schön ist. Ich bin mir nicht immer meiner selbst bewusst, und die Bilder kommen wie im Traum.5 

Erschreckend ist diese Klarheit, weil nun nicht mehr das »du bist« bestimmend ist, sondern weil es jetzt heißen muss »ich bin du – Zypresse, Äther, Licht, Farbe, Wesen …«, wenn das Ich seine Vereinzelung aufgibt und sich nicht mehr mit der Ansicht von Schatten begnügt, sondern sich mit den mächtigen Erscheinungen der Welt verbindet.