Offene Arme für den Zufall

AutorIn: Alexander Capistran

Die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit ist eine unmögliche Aufgabe. Sobald ein Mensch glaubt, sich zu kennen und mit seinen Taten bestimmte Dinge zu erreichen, kommt ein wie auch immer bezeichnetes Etwas auf ihn zu und durchkreuzt seine Pläne. Aber auch wenn er die Entwicklung seiner selbst vollends an die Umwelt abgeben möchte, scheitert er notwendig: Sein eigenes Leben zu führen und nach einem selbstgewählten Sinn zu formen, ist dem Menschen von jeher aufgegeben und lässt sich nicht abschütteln. Wohl aber glauben wir Menschen oft, uns planbar und vernünftig weiterzuentwickeln, wo es weiser wäre, auf die Gnade der anderen zu hoffen, wie wir anders herum oft die Verantwortung abgeben in Fragen, die doch eigentlich ganz die unseren sind. In dieses Durcheinander streuen wir nun eine Prise Ordnungsgeist hinein – wo ist es recht und billig, sich demütig zurückzuhalten und wo ist es an der Zeit, sich mit dem eigenen Selbst formend der Welt einzuprägen?

Das Unplanbare kann nicht geplant werden, Routinen werden an ihm stumpf. Ich kann so viele Sicherheitsvorkehrungen und -routinen entwickeln, wie ich mag, aber den Autounfall kann ich nicht verhindern. Wenn er passiert, passiert er, trotz meiner Vorkehrungen. Allerdings kann ich dem Ungeplanten, dem Chaotischen, tendenziell Herr werden, wenn ich das Vorher, das Währenddessen und das Danach im Vorhinein durchdenke und es geistig umarme.

 

Sagen wir, es gibt eine Reihe von angenehmen Überraschungen, die unplanbar bzw. sehr unwahrscheinlich sind, wie etwa Lottogewinne, Zufallsbegegnungen mit Kindheitshelden, romantische Verliebtheit, Überraschungen, spontane und unverhandelbare Abenteuer, bei denen die Regelmäßigkeit der Routinen zunächst verschwindet. Man wünscht sich im Gegenteil sogar, ganz unreglementiert, frei und spontan zu sein. Bei negativen unvorhersehbaren Ereignissen wie etwa Naturkatastrophen, Amokläufen, Unfällen oder etwas weniger drastisch: ungebetenem Besuch, verhält es sich anders herum. Wir wünschen uns umso klarere Regeln, Werkzeuge und Bewältigungsstrategien, um mit dem Übel fertig zu werden und in der Situation nicht in Ekstasen der Verheerung abzudriften. Im Positiven wünschen wir uns hingegen reine Ekstase. In beiden Fällen, muss die Fähigkeit zum angemessenen Reagieren eine eingeübte sein, sonst falle ich womöglich ins Bodenlose angesichts des Übels und versinke vor Scham, Überforderung oder Sprachlosigkeit bei angenehmen Überraschungen.

Wie kann ich also meine Routinen und mein Inneres so darauf einstellen, dass sie auf Unvorhergesehenes in unserem Sinne reagieren? Und was hat das mit meiner Entwicklung als Mensch zu tun?

 

Werfen wir kurz einen Blick auf die weniger komplexe Seite der Gleichung: das Planen inmitten einer planbaren Umgebung. Die Kraft von Übungen und Routinen ist in allen Kulturen und Traditionen verbrieft. Ob es nun um die Beherrschung eines Handwerks (techné) oder um spirituelle Entwicklung geht, Übung macht die Meister. Meditations- und Achtsamkeitsübungen, Teezeremonien, Rituale und in der Anthro­posophie die sogenannten Nebenübungen bilden einen umfangreichen Kanon der Übungen zur Erlangung tieferer Bewusstheit. Es ist ganz klar: Bei einfachen handwerklichen wie bei komplexen innerlichen Tätigkeiten lernt unser Organismus durch wiederholte Versuche, in deren Umraum sich Neues bildet. Aber selbst hier kommt das Ungewisse, Unplanbare schneller auf uns zu, als wir denken: Während die Beherrschung einfacher Fertigkeiten und Handwerke, sagen wir des Fahrradfahrens, ein eindeutiges Ziel ist, das jedem sofort einleuchtet, verhält es sich bei innerer Entwicklung anders. Selbst wenn Ideale am Horizont schimmern wie etwa Seelenruhe, Erleuchtung, Tugendhaftigkeit, sind diese zu abstrakt und interpretationsbedürftig, um für alle gleichermaßen einsichtig zu sein: Er oder sie ist erleuchtet – was heißt das denn und wie kann man es zweifelsfrei erkennen? Trotz der Vagheit des Zielzustandes können wir annehmen, dass die kontinuierliche Übung auf den angestrebten Zustand hinführt. Lebensglück und Erleuchtung sind allerdings so große Ziele, dass der Weg zu ihnen niemals unilinear sein kann, ein Stück Gnadengabe muss immer dabei sein, wenn ich diese Ziele tatsächlich erreichen will. Den selbstverantwortlichen Teil der Gleichung muss ich besorgen, aber der hinzukommende Teil liegt nicht in meiner Macht. Ihm gegenüber sollte ich mich empfänglich machen: Mit offenen Armen auf den Zufall oder das Schicksal zuzugehen, sodass ihre Gabe nicht ins Bodenlose fällt, sondern in meinen Schoß, ist nicht selbstverständlich. Gerade wenn wir modern lebend alles kontrollieren wollen, wozu vertrackterweise auch die Übungen zählen können, fällt es uns an entscheidender Stelle schwer, kontrolliert loszulassen. Hier hilft das Eingeständnis der Gelassenheit: Ich habe mit der Übung einen kleinen Teil des großen, verheißenen Glückes zum Leben erweckt, auch wenn ich das große Ziel vielleicht nie erreichen werde. Diese Demut adelt den pietätvoll Übenden. Selbstentwicklung ist Selbsterziehung, gepaart mit Selbstbescheidung.

 

Wie verhält es sich aber nun mit Situationen, die mich heimsuchen und die ich nicht selbst herbeiführen kann? Schicksalsschläge und -streicheleien können vorgedacht, vorgefühlt und nachbedacht werden, dann fallen sie auf vorbereiteten Boden. Ein Freund stellte mir vor Jahren das Modell der »Wenn-Dann-Kontingenzen« vor, bei dem es darum geht, im Voraus bestimmte Handlungsabfolgen festzulegen im Falle eines Falls. Hier legt der Proband, vielleicht gemütlich am Kamin sitzend, fest, was er tut, wenn er in die Lage kommen sollte, fernab der Zivilisation im Schnee fast zu erfrieren. So kann es unter Umständen das Sinnvollste sein, sich – kontraintuitiv – im Schnee einzugraben, um weniger kälteexponiert zu sein. Die Formel lautet dann: Wenn ich bei Dunkelheit in einer Schneelandschaft verloren gehe ohne Aussicht auf rettende Heimeligkeit, werde ich mich im Schnee eingraben, sonst werde ich erfrieren. Oder etwas alltagstauglicher: Wenn die Schwiegermutter, die mich stets zur Weißglut treibt, unangekündigt zu Besuch kommt, werde ich in den Garten gehen und eine Runde Holz hacken. Analog verhält es sich bei positiven Überraschungen – gut überlegte Routinen helfen, dass einem ein Lob oder ein Erfolg nicht zu Kopfe steigt oder dass man im Überschwang der Situation keine Heiratsanträge oder Versprechungen abgibt, die man später bereut. Die Form der Wenn-Dann-Reflexion hilft, den eigenen Willen oder das Vernünftige zu tun in Situationen, die unüberschaubar und emotional fordernd sein können. Auch wenn es im realen Leben ratsam ist, diese Handlungswege nicht stur und rücksichtslos auszuführen, hilft sie mit, ein bewussteres und gelasseneres Leben zu führen. Am Ende entscheidet so ein wiedergekäutes Bauchgefühl. Wäre es nicht aber noch schöner und weiser, gar nicht erst in die vertrackten Situationen zu kommen, sofern sie sich vermeiden lassen? Oder anders herum, ein Environment zu kreieren, in dem ein wesentliches Positiverlebnis angezogen wird? Hier bietet es sich an, mit tiefen Affinitäten der Dinge zueinander zu arbeiten. Das bedeutet, Dinge, die in ähnlicher Umgebung vorkommen oder eine aufeinander aufbauende Intensität haben, bewusst zu meiden oder zu suchen. So ist es ein bewährter Zug, Smartphone und Internet außer Reichweite zu haben, wenn kreativ und ideenreich gedacht werden soll. Einmal im Monat mit Menschen Kontakt aufzunehmen, für die man Bewunderung und besondere Ehrfurcht empfindet, stärkt die Affinität zu den Personen und ihren Tätigkeitsfeldern, sodass neue berufliche oder innere Wege offenstehen. Schließlich ist es wichtig, richtig zu reagieren, wenn eine unvorhergesehene Situation vorübergegangen ist. Die Erfahrung nachklingen zu lassen, sich zu erholen, zu integrieren, braucht Räume, die bewusst geschaffen werden sollten. Sodann ist es ein Kunststück, wieder in die bestehenden Routinen und Alltagsabläufe hineinzufinden.

 

Nach einer aufrüttelnden Situation kann so eine selbstgesetzte Pietätszeit anberaumt werden, nach der wieder mit den soliden, Gewohnheiten aufbauenden Erdungstätigkeiten begonnen wird. Eine Frage, die hier noch offen bleibt, ist, wie wir neben diesen situationsbasierten Übungen Tiefenstrukturen unseres Menschseins stärken können, die über die Routinen erhaben sind bzw. universell alle Dimensionen des Lebens durchtränken und so extrem wirksam sind. Liebe, Bewusstsein, Präsenz zu kultivieren, sich ihnen ganz hinzugeben, wäre so ein Weg. Aber auch dieser muss konkret zur Erscheinung gebracht werden und dafür braucht es Übungen, die Arme, Herz und Geist öffnen. So würde aus der Selbstformung des menschlichen Lebens eine Art Offenbarung des Menschen gegenüber Größerem, Umfassenderen erwachsen, wie es uns schon von Rilke zugeworfen wurde:

 

Solang du Selbstgeworfnes fängst, ist alles

Geschicklichkeit und läßlicher Gewinn –;

erst wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles,

den eine ewige Mit-Spielerin

dir zuwarf, deiner Mitte, in genau

gekonntem Schwung, in einem jener Bögen

aus Gottes großem Brücken-Bau:

erst dann ist Fangen-Können ein Vermögen, –

nicht deines, einer Welt. Und wenn du gar

zurückzuwerfen Kraft und Mut besäßest,

nein, wunderbarer: Mut und Kraft vergäßest

und schon geworfen hättest ... (wie das Jahr

die Vögel wirft, die Wandervogelschwärme,

die eine ältre einer jungen Wärme

hinüberschleudert über Meere –) erst

in diesem Wagnis spielst du gültig mit.

Erleichterst dir den Wurf nicht mehr; erschwerst

dir ihn nicht mehr. Aus deinen Händen tritt

das Meteor und rast in seine Räume ...