Kommt die Gelassenheit im Evangelium vor?

AutorIn: Friedrich Schmidt-Hieber

Ziehen wir eine aus dem traditionell kirchlichen Zusammenhang stammende Bibelübersetzung heran, so werden wir im ganzen Neuen Testament vergeblich nach der Gelassenheit, dem Gleichmut suchen – sie kommen dort, soweit ich es überblicken kann, auch nicht ein einziges Mal vor. Das ist erstaunlich. Kann es denn sein, dass ein Werk, das in so grundlegender und umfassender Weise der Menschheit zum Heil verhelfen will, diese für die Meisterung unseres Lebens so wichtige Seelenkraft der Gelassenheit, des Gleichmuts völlig unberücksichtigt lässt?

Anders wird dies, greifen wir zu den Übersetzungen von Bock und Ogilvie. Hier finden sich Gelassenheit, Gleichmut mehrmals: einmal innerhalb der vier Evangelien und dann noch an verschiedenen Stellen in den Briefen. Am bekanntesten dürfte die Stelle am Beginn der Bergpredigt im Matthäusevangelium sein, nämlich die dritte der Seligpreisungen: »Selig sind, die ihre Seelen zum Gleichmut erziehen ...« bzw. »die Gleichmut errungen haben« (Mt 5,5). Traditionell wird diese Seligpreisung stets wiedergegeben mit »Selig sind die Sanftmütigen ...« oder, im selben Sinn, »diejenigen, die keine Gewalt anwenden« (Einheitsübersetzung). Auch bei den Stellen in den Briefen handelt es sich um diese Gegensätzlichkeit: sanftmütig, milde von Seiten der Tradition, gleichmütig, gelassen, innerlich harmonisch bei Bock und Ogilvie. Der Unterschied ist aber nicht durchgehend: manchmal übersetzen auch Bock und Ogilvie mit sanftmütig, milde, nie aber eben die traditionellen Übersetzer mit gleichmütig, gelassen.

Wie kommt es zu dieser Unterschiedlichkeit? Sie rührt davon her, dass das Wort, das sich im griechischen Urtext an den entsprechenden Stellen bfindet, praüs, bzw. zwei damit verbundene Substantive, beides bedeuten kann: einerseits sanftmütig, milde, andrerseits gleichmütig, gelassen.

 

Was ist der Unterschied zwischen Sanftmut, Milde und Gelassenheit, Gleichmut?

Bei der Gelassenheit, dem Gleichmut geht es darum, dass wir uns von unseren Emotionen nicht hinreißen lassen, uns nicht »himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt« in ihnen verlieren, sondern die innere Mitte bewahren. Gelassenheit, Gleichmut helfen uns in den Bedrängnissen des Lebens, wo Stress oder Panik drohen, wo wir von anderen angegriffen oder verspottet werden, wo der Zorn in uns hochkocht. Sie helfen uns aber auch da, wo großes Glück uns zum »Abheben« verleitet. Sie sind etwas, was vor allem in unserem Inneren vor sich geht, was wir mit uns selber abmachen. Sie strahlen dann aber selbstverständlich von uns auch nach außen aus und wirken auf unsere Mitmenschen.

Anders die Sanftmut, die Milde. Sie sind gegenüber den seelischen Emotionen nicht so weit angelegt wie Gelassenheit und Gleichmut. Bezüglich des ganzen Bereichs des »himmelhoch jauchzend« würden wir nicht sagen, dass wir da mit Sanftmut reagieren; ebenso nicht z.B. auf eine Panikattacke. Sanftmut und Milde sind vielmehr »spezialisiert« auf die Emotionen von Zorn und Aggressivität. Und das Wesentliche ist bei ihnen weniger, was wir mit uns selber abmachen, sondern das Wirken auf die anderen Menschen.

Die Menschen im Urchristentum nahmen mit dem einen Wort praüs beide Bedeutungen auf, beide Seelenaktivitäten konnten zusammenklingen. Später gab es dann die bis in unsere Zeit reichende Beschränkung auf Sanftmut, Milde, und es ist Bock und Ogilvie sehr zu danken, dass sie nun auch Gelassenheit, Gleichmut zu ihrem Recht verhalfen.

In der Antike entfaltete sich das Urchristentum in einer Kultur, in der das Üben von Gleichmut und Gelassenheit eine wichtige Rolle spielte, wie etwa in der damals weit verbreiteten stoischen Lebenshaltung. Die Lehren des Philosophen Seneca und des Philosophen und römischen Kaisers Marc Aurel z.B. leben intensiv in dieser Stimmung. Hätte das Urchristentum Gelassenheit und Gleichmut völlig unberücksichtigt gelassen, müsste es den Menschen damals als weltfremd und jeglicher Menschenkenntnis entbehrend erschienen sein.

Und heute? Eine große Anziehungskraft für viele Menschen, auch für jüngere, übt in unserer Zeit der Buddhismus aus. Auch dieser ist, wie der Stoizismus, stark geprägt von einer Durchdringung der Seele mit Gelassenheit und Gleichmut, vom Erleben der großen Ruhe, die dadurch in das Leben kommt. Man kann sich fragen, ob es vor allem dies ist, was die Menschen in unseren hastenden, stressenden Zeitverhältnissen sich dem Buddhismus so zuneigen lässt, in der Meinung, es im Christentum nicht finden zu können.

Man sieht daran, wie wichtig es ist, Gelassenheit und Gleichmut ihren angemessenen Platz im Neuen Testament zukommen zu lassen und den Eindruck zu tilgen, als kenne es sie gar nicht. Allerdings besteht nun eine neue Einseitigkeit. Man möchte deshalb alle künftigen Bibel-Übersetzer ermutigen, an das Urchristentum anzuknüpfen, als in dem einen Wort beide Seelentätigkeiten angesprochen waren und, eine kleine Erweiterung des Textes nicht scheuend, an den entsprechenden Stellen zu sagen: Die Gelassenen und die Sanftmütigen.