Der Tod von der anderen Seite aus gesehen

AutorIn: Ruth Ewertowski

Kein Mensch kann sich an seine Geburt erinnern, an seinen Tod aber schon. Ja, im nachtodlichen Leben können wir uns an nichts so gut erinnern wie an unseren eigenen Tod. Auf der anderen Seite der Schwelle verhält sich nämlich alles ganz anders: Es verhält sich für uns hier unvorstellbar, und dennoch können wir eine Ahnung von dem bekommen, wie es »drüben« ist, und zwar auch dann, wenn wir nicht hellsichtig sind, sondern den Weg über unsere hiesigen Erlebnisse, Begriffe und Vorstellungen gehen müssen. Denn gerade in dem, worin diese »versagen«, eröffnen sie doch eine Einsicht, wenn wir sie gewissermaßen von ihrer Kehrseite her ergänzen.

Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass unsere Erinnerungsfähigkeit nicht gleich mit der Geburt beginnt, sondern erst dann, wenn wir schon ein Stück weit in ein Verhältnis zu unserer Leiblichkeit getreten sind und in diesem Zusammenhang – also in der Spiegelung am Leib – ein Selbst entwickelt haben. Erste Erinnerungen mögen dabei etwa im Alter von eineinhalb Jahren auftreten. Sie nehmen zu, je weiter sich das Vermögen zu sprechen und zu denken entwickelt. Aber woran man sich eben nicht erinnert, ist das größte Ereignis, das man mitgemacht hat, das der eigenen Geburt. Hier versagen unsere mentalen Fähigkeiten.

Beim Übertritt über die andere Schwelle, die Schwelle des Todes ist das anders. Hier wird das Selbstbewusstsein geradezu durch das Ereignis dieses Schwellenübertritts konstituiert. Der Tod ist das herausragende Erlebnis des nachtodlichen Seins, das unser Ich-Bewusstsein in dieser unkörperlichen Existenz ausmacht und immer wieder anregt, also gewissermaßen am Leben erhält.

Immer ist es der physische Leib, an dem unser Bewusstsein hängt. Auch im Nachtodlichen, Unkörperlichen ist das so, jedoch nicht durch wiederholte leibvermittelte Sinneserfahrung, sondern durch das einmalige Erlebnis des Dahinschwindens unseres Leibes im Tod. So sagt Rudolf Steiner in seinen 1916 gehaltenen Vorträgen über »Die Verbindung zwischen Lebenden und Toten«: »Würden wir beim Durchgang durch die Todespforte dieses Erlebnis nicht haben können, das wir wissentlich mitmachen, das Weggehen unseres physischen Leibes, so würden wir nachtodlich niemals ein Ich-Bewusstsein entfalten können! Das Ich-Bewusstsein nach dem Tode wird angeregt durch dieses Erleben des Hinweggehens des physischen Leibes.«1 Daraus erwächst die Empfindung: Ich bin ein Ich.

Dass wir aber den Tod bewusst erleben können, verdanken wir der Ausbildung unseres Bewusstseins während des Lebens. Hier gibt es einen Übergang: Ohne den Leib drohen wir unser Bewusstsein zu verlieren, aber das bewusste Erleben seines Schwindens und die Erinnerung an dieses Erlebnis machen das Bewusstsein im Unkörperlichen aus. So bleibt es irgendwie auf den Leib des irdischen Lebens bezogen.

Aber ein neues irdisches Leben beginnen wir mit der Tabula rasa der Bewusstlosigkeit. Auch wenn wir eine Vorgeschichte haben, so fangen wir doch neu an, haben aus dem Fluss Lethe, dem Fluss des Vergessens getrunken. Dieses Vergessen befreit uns. Erst aufgrund unserer anfänglichen Bewusstlosigkeit, dem Nicht-Erinnern unserer früheren Taten und Leiden können wir frei und unabhängig denken und handeln. Der Preis dafür ist, dass wir unsere Geburt nicht bewusst erleben. Dieses »herrlichste« Ereignis erleben, unter Schmerzen, nicht die, die da in ein neues Leben treten, sondern die anderen: die Mutter, die Eltern.

Aber wie die anderen beim Tod eines geliebten Menschen die traurigsten Gefühle haben, so hat der Sterbende selbst die gegenteilige Empfindung: »Von der anderen Seite angesehen, ist der Tod als solcher das Herrlichste, das immerzu vor des Menschen Seele stehen kann.«2 Der Tod ist das herausragende Ereignis unseres Bewusstseins.    

 

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1  Rudolf Steiner: Die Verbindung zwischen Lebenden und Toten, GA 168, Vortrag vom 16.2.1916

2  Ebd.